Memorandum zum Musikunterricht

an Sonderschulen

 

 

Einstimmig verabschiedet bei der „Expertentagung“ (Teilnehmer: Vertreter der Schulpraxis, der Ausbildungsseminare, der Lehrerfortbildung, der Hochschulen und der Kultusbehörden der Bundesländer) vom 13. – 15. März 1991 in der Evangelischen Akademie Loccum. Diese Tagung wurde im Rahmen des vom Verband deutscher Schulmusiker (vds) durchgeführten und vom Bundesminister für Bildung und Wissenschaft finanzierten Forschungsprojekts „Musikunterricht an Sonderschulen“ veranstaltet. (Leitung: Prof. Dr. Franz Amrhein, Prof. Dr. Werner Probst, Koordination: Robert Wijnmaalen)

 

 

A.  Die Bedeutung des Musikunterrichts

 

Musik spielt in unserer Welt, besonders im Leben der Kinder und Jugendlichen, eine überragende Rolle, deshalb kann auf Musikun­terricht in den Schulen nicht verzichtet werden.

Dieser Unterricht hat eine dreifache Aufgabe:

 

·        Er soll dem Schüler Hilfen für den täglichen Umgang mit Musik anbieten und ihm individuelle Möglichkeiten musikalischen Handelns und Erlebens erschließen.

·        Er soll die Bewegungs-, Ausdrucks-, Wahrnehmungs- und Kom­munikationsfähigkeiten wecken und fördern, Fähigkeiten, die für jegliches menschliches Leben und Lernen grundlegend sind.

·        Er soll dazu beitragen, daß der für den Schüler bedeutsame Lebensraum Schule schöner und freudvoller wird. Die tägliche Erfahrung und die Schulforschung belegen, daß eine gute Schulatmosphäre in hohem Maße zum Lernerfolg beiträgt.

 

Ein Musikunterricht,  der zur Lebensbewältigung und Lebensbe­reicherung beiträgt, der die Schüler fördert und Freude in die Schule bringt, hat für Sonderschüler eine besondere Bedeutung. Durch ihre Behinderung und ihren sozialen Status haben sie außerhalb der Schule kaum Gelegenheit, Musikunterricht zu er­halten, sich musikalisch zu betätigen und an den Möglichkeiten der Lebenskultivierung durch Musik teilzuhaben. So bleibt nur der schulische Musikunterricht zur Entwicklung ihrer musikali­schen Fähigkeiten.

Darüber hinaus leistet Musikunterricht insofern einen unersetz­lichen Beitrag zur Förderung, Rehabilitation und Integration des Sonderschülers, als Musik alle Arten von Behinderung auf eine sonst kaum erreichbare Weise zu beeinflussen vermag. Musik kann wie kein anderes Medium durch ihre einerseits  mitreißende, stimulierende, anderseits bindende, ordnende Wirkung die gestör­te Bewegungs-, Ausdrucks-, Wahrnehmungs- und Kommunikations­fähigkeit des Schülers aktivieren und stabilisieren.

Obwohl dies durch viele Erfahrungen und Untersuchungen belegt ist, obwohl Musik auch an Sonderschulen zum Fächerkanon gehört und obwohl die Literatur voll ist von Bekundungen über den hohen pädagogischen und therapeutischen Wert von Musik, nimmt in der Bundesrepublik - von Ausnahmen abgesehen - der Musikunterricht an Sonderschulen diese Chancen kaum wahr.

 

B.   Die Situation des Musikunterrichts an Sonderschulen

 

Der Verband Deutscher Schulmusiker (VDS) führt seit Mai 1990 ein vom Bundesminister für Bildung und Wissenschaft gefördertes Forschungsprojekt durch, in dessen Rahmen zahlreiche Daten über die Voraussetzungen und die tatsächliche Situation des Musikunterrichts an Sonderschulen gesammelt, sowie eine dreitägige Expertentagung mit Teilnehmern aus der Praxis, der Wissenschaft und den Kultusbehörden der alten und neuen Bundesländer ver­anstaltet wurde.

Aus den durchgeführten Erhebungen und Untersuchungen sowie den Darstellungen der in diesem Bereich tätigen Experten ergibt sich ein sehr unerfreuliches Bild:

·        ca. 40% des Musikunterrichts an Sonderschulen fällt ganz aus.

·        Die Schulen sind nur unzureichend mit Instrumenten und Medien ausgestattet. Es fehlen geeignete Unterrichtsmaterialien.

·        Die meisten Sonderschulen verfügen nicht einmal über einen Musikraum.

·        Nur wenige Sonderschullehrer haben Musik als Fach studiert. Das hat zur Folge, daß über die Hälfte des stattfindenden Musikunterrichts von Lehrern erteilt wird, die über keiner­lei musikpädagogische Ausbildung verfügen.

·        In der Ausbildung (in Studium und Referendariat) wird weder auf die besonderen Erfordernisse des Musikunterrichts an Sonderschulen, noch auf die besonderen Belange der unter­schiedlichen Behinderungen Bezug genommen.

·        Es gibt im Fach Musik an Sonderschulen zu wenige Angebote in der Lehrerfortbildung und keine Möglichkeiten in der Lehrerweiterbildung.

·        Die Fachlehrpläne für Sonderschulen entsprechen in keiner Weise dem Entwicklungsstand der Pläne für die übrigen Schul­arten.

Diese Faktoren,  zwischen denen enge Zusammenhänge bestehen, zeigen, daß Sonderschüler auch in hohem Maß kulturell benach­teiligt werden.

 

C. Forderungen zur Verbesserung der Situation

 

Dieser Zustand darf angesichts unserer bedeutenden musikalischen Tradition, unseres blühenden Musiklebens und unserer demokrati­schen Verantwortung für die Behinderten in unserer Gesellschaft nicht länger hingenommen werden.

Der Verband deutscher Schulmusiker (vds), die Verantwortlichen des Forschungsprojekts und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Expertentagung vom 13.-15. März 1991 in der Evangelischen Akademie Loccum wenden sich mit diesem Memorandum an Eltern, Kultusbehörden, Politiker und an die gesamte Öffentlichkeit mit dem Appell, auf eine Änderung dieses Zustandes hinzuwirken und erheben folgende Forderungen:

 

1.     Allgemeine Forderungen

 

·        Es ist eine länderübergreifende Institution zu schaffen, die Erfahrungsaustausch,  Kooperation und Koordination bei der Entwicklung von Lehrplänen und Materialien, der Durchführung von Forschungsprojekten und Modellversuchen, der Entwicklung und Durchführung von Maßnahmen in der Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung ermöglicht.

·        Im Hinblick auf die Bedeutung der Musik im Leben der Schüler und auf die besonderen Fördermöglichkeiten durch Musik sol­len in allen Sonderschulformen und -stufen zwei Wochenstun­den Musikunterricht erteilt werden.

·        Die Schulen müssen sach- und fachgerecht mit Musikräumen, Instrumenten, Medien und Materialien ausgestattet werden.

·        Zur Entwicklung, Durchführung und Evaluierung von Unter­richtskonzepten, -materialien und Förderprogrammen sollen Modellversuche durchgeführt werden.

·        Auf der Basis der positiven Erfahrung des Modellversuchs des Verbandes deutscher Musikschulen „Instrumentalspiel mit Be­hinderten und von Behinderung Bedrohten - Kooperation zwi­schen Musikschule und Schule“ soll Instrumentalunterricht an Sonderschulen erteilt werden.

 

 

2. Lehrerausbildung an Universitäten und Hochschulen

 

·        Es müssen vermehrt Studienplätze für das Fach Musik an Son­derschulen zur Verfügung gestellt werden.

·        An Hochschulen, die den Studiengang Sonderpädagogik anbie­ten, muß das Fach ,,Musik  in der Sonderpädagogik" durch hauptamtlich Lehrende (Hochschullehrer und wissenschaftli­che/künstlerische Mitarbeiter) vertreten werden.

·        Studienordnungen sind so zu gestalten, daß sie sowohl mu­sikwissenschaftlichen und musikpädagogischen Kriterien als auch den Anforderungen der unterschiedlichen sonderpädagogi­schen Praxisfelder entsprechen

·        Auch für Studierende, die das Fach Musik nicht studieren, sollen Veranstaltungen zur Praxis der elementaren Musik- und Bewegungserziehung verpflichtend gemacht werden.

 

3. Ausbildung in der zweiten Phase (Seminar)

 

·        Es  sollen  selbständige  Fachseminare  ,,Musikunterricht  an Sonderschulen"  eingerichtet  und  sachgerecht  ausgestattet werden.

 

4. Lehrerfort- und -weiterbildung

 

·        Da eine Verbesserung der Situation durch die Lehrerausbil­dung nur langfristig zu erreichen ist, müssen vermehrt zen­trale, regionale und schulinterne Angebote der Lehrerfort­bildung gemacht werden.

·        Es müssen längerfristige Möglichkeiten der Weiterbildung entwickelt werden, bei denen die Lehrerinnen und Lehrer auch eine zusätzliche Qualifikation erwerben können

·        Die Angebote der Fort- und Weiterbildung müssen auf die Un­terrichtssituation an den verschiedenen Sonderschulen und auf die besonderen Fördermöglichkeiten durch Musik Bezug nehmen

 

 

 

 

 

5. Richtlinien und Lehrpläne

 

·        Die Lehrpläne müssen im Hinblick auf die veränderte Schüler­population, auf das veränderte musikalische Verhalten der Schüler, auf die unterschiedlichen Behinderungsarten und Be­hinderungsgrade,  auf die besonderen Fördermöglichkeiten durch Musik und im Hinblick auf den aktuellen Stand der musikdidaktischen Diskussion revidiert werden.

·        Lehrpläne müssen durch Handreichungen und Materialien kon­kretisiert und ergänzt werden.

·        Zur Erarbeitung der Lehrpläne und Handreichungen müssen län­gerfristig arbeitende Kommissionen berufen werden,  deren Mitglieder der Schule sowie der 1. und 2. Ausbildungsphase angehören.

Zurück