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Aus: Holger Probst (Hg.): Mit Behinderungen muss gerechnet werden – Der Marburger Beitrag zur lernprozessorientierten Diagnostik, Beratung und Förderung.  Oberbiel 1999

 

LERNEN MIT DEN SINNEN

 

Aspekte von Theorie und Praxis ästhetischer Erziehung

im Sonderpädagogikstudium am Beispiel Musik

 

Franz Amrhein / Margret Bieker

 

 

1. Ästhetische Erziehung

 

In Abhebung zum diffusen und ideologisch belasteten Begriff der musischen Bildung und als Gegenmodell zu einer einseitig am Kunstwerk orientierten Kunst- und Musik­erziehung führte Hartmut von Hentig in den sechziger Jahren den Begriff der ästhetischen Erziehung in die pädagogische Diskussion ein. Ästhetische Erziehung (von griech. aisthesis = die Wahrnehmung) bedeutet Wahrnehmungserziehung. Ihr Gegenstand sind weniger ästhetisch-künstlerische Objekte sondern vielmehr das ästhetische Verhalten des Subjekts, seine mit der Wahrnehmung, der Rezeption zusammenhängenden produktiven und reproduktiven sinnlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten, die in Bewegung, Tanz, Hören, Sehen, Fühlen, klanglichem und bildhaftem Gestalten usw. zum Ausdruck kommen.

 

„Ästhetische Erziehung heißt Ausrüstung und Übung des Menschen in der Aisthesis - in der Wahrnehmung. Sie will etwas ganz Elementares und Allgemeines“ (v. Hentig 1967, S. 71). „Wenn man die Kunst nicht als die Summe der anerkannten Kunstwerke... auffaßt, wenn man sie vielmehr schon mit den Wahrnehmungsprozessen... beginnen läßt, dann wird deutlich, welch großen und wichtigen Bereich unseres Lebens wir dem Zufall oder der Gewohnheit oder der Manipulation oder der Verödung überlassen: daß unsere ästhetische Erziehung in einem grotesken Mißverhältnis zu unserer ästhetischen Beanspruchung steht - und erst recht zu unserer wissenschaftlichen, beruflichen und politischen Erziehung“ (Ders. 1985, S. 29). „Die Forderung an die Schule lautet, sie soll dem Schüler an verschiedenen Gegenständen und auf verschiedenen Gebieten die Erfahrungen von der freien Gestaltbarkeit der Wahrnehmung, der Herstellung und Darstellung seiner Welt geben und von den Grenzen solcher Freiheit und ein waches Bewußtsein von der gleich großen Gefahr der Gewöhnung und ´Manipulation´“ (Ders. 1985, S. 21).

 

Diethard Kerbs  (1972, S. 15 f) weist der ästhetischen Erziehung vier Funktionen zu: die ´kritische´ (Ä.E. soll über Vorurteile, Gewohnheiten, Manipulationsmechanismen im Umgang mit der Wahrnehmung aufklären), die ´utopische´ (Ä.E. soll Alternativen zu gewohnten Verhaltensweisen entwickeln), die ´hedonistische´ (Ä.E. soll Sinnlichkeit, Lust, Spaß zu ihrem Recht verhelfen)  und die ´pragmatische´ (Ä.E. soll nicht im isolierten Spielraum der Künste, sondern im Bezug zu Lebenswelt und Alltag geschehen). Wolfgang Roscher (1974, S. 193) benutzt den Begriff „Polyästhetische Erziehung“ (=viele Sinne betreffend), um den Zusammenhang aller Sinne zu betonen und unterscheidet folgende Aspekte: den ´multimedialen´ (mit vielen Medien und Sinnen), den ´interdisziplinären´ (Zusammenführung von Musik, Tanz, Dichtung, Bildender Kunst, usw.), den ´traditionsintegrativen´ (Umgang mit gegenwärtigen und vergangenen Ausdrucksformen), den ´interkulturellen´ (Einbezug aller Kulturen) und den ´sozialkommunikativen´ (Überwindung von Klassen und Schichten).

 

Für Wolfgang Klafki bedeutet Erziehung bzw. Bildung die Erschließung des Menschen und die Erschließung der Welt. Es handelt sich „um einen aktiven Aneignungsvorgang, in welchem dem zu bildenden Subjekt sich die Wirklichkeit ‘aufschließt’, zugänglich, verstehbar, kritisierbar, veränderbar wird und in dem gleichzeitig das Subjekt sich für seine Wirklichkeit ‘aufschließt’,  also Verständnis-,  Handlungs-, Verantwortungsmöglichkeiten in sich entfaltet; beide Aspekte sind Momente eines einheitlichen Prozesses.“ (Klafki 1991, S.96) Folgt man dieser Definition von Erziehung, so bedeutet ästhetische Erziehung die Erschließung des ästhetischen Menschen und die Erschließung der ästhetischen Welt. Der ‘ästhetische Mensch’, das Subjekt, besteht in erster Linie aus den ästhetischen - sinnlichen (auditiven, motorischen, taktilen, visuellen usw.) Bedürfnissen und Fähigkeiten. Zur ästhetischen Welt, zu den Objekten  ästhetischer Erziehung,  zählen nicht nur  die Künste, sondern ebenso Natur und Technik sowie die neuen Informations- und Kommunikationsmedien. Die Sinne und der sinnliche Aspekt der Gegenstände bilden die Basis ästhetischer Erziehung und zugleich die Grundlage für die Entwicklung der motorischen, affektiven, kognitiven und sozialen Fähigkeiten und Bedürfnisse.

 

Auf der einen Seite steht der ästhetische Gegenstand  (ein Bild, Gedicht, Lied, Tanz, Film usw.) als Anreiz oder Aufgabe, auf der anderen Seite das Subjekt mit seinen auf diesen Gegenstand bezogenen Bedürfnissen und Fähigkeiten. Beim Malen, Singen, Spielen, Tanzen, usw. werden nicht nur der jeweilige Gegenstand, sondern auch die darauf gerichteten ästhetischen Bedürfnisse und Fähigkeiten erschlossen, entwickelt, angeeignet. Dieser Prozeß vollzieht sich in der Regel nicht in einem, sondern in vielen kleinen Schritten: bei einem Tanz z.B. können wir zunächst nur einen Teil, nur die Grundschritte, nur ein langsames Tempo, bis wir durch Wiederholungen auch schwierigere Schritte, ein schnelleres Tempo  und schließlich den ganzen Tanz beherrschen. Aneignung und Lernen beziehen sich nicht nur auf den Tanz (die objektive Seite) sondern auch auf das Bedürfnis und die Fähigkeit zu tanzen (die subjektive Seite). Für die richtigen (großen oder kleinen) Schritte, den Weg zur Aneignung ist – wie noch dargelegt wird – das methodische Geschick des Lehrers ausschlaggebend.

Auf der Basis der bisherigen Überlegungen, die sich auf das Gesamt der ästhetischen Objekte, Bedürfnisse und Fähigkeiten bezogen, handeln die weiteren Ausführungen vom Umgang mit Musik und musikalischen Bedürfnissen und Fähigkeiten. Diese Einengung, die mit den von Autorin und Autor vertretenen Schwerpunkten zusammenhängen, wird jedoch kompensiert durch den weiten Begriff von Musik und musikalischem Handeln, der im Folgenden erläutert wird.

 

2. Musikerziehung als Ästhetische Erziehung

 

Das Ziel von Musikerziehung ist die Erschließung der musikalischen Bedürfnisse und Fähigkeiten und die Erschließung der Musik, ein Ziel, welches nur durch musikalisches Handeln (Singen, Spielen, Hören, Tanzen usw.) erreicht werden kann. „Musikalisch“ ist eine Handlung, wenn sie von Tempo, Ablauf, Gliederung, Rhythmus, Ausdruck usw. der Musik bestimmt wird, wenn menschliche und musikalische Bewegung übereinstimmen. Ohne Bewegung und Bewegungsvorstellung gibt es weder Musik noch musikalisches Handeln. Das bedeutet, Musikerziehung ist in erster Linie Bewegungserziehung und da Bewegung – wie im Folgenden näher erläutert wird – die Basis jeglicher Sinnestätigkeit darstellt, ist Musikerziehung stets auch ästhetische Erziehung.

 

Die körperliche Bewegung ist das erste Merkmal des schon angesprochenen weiten Begriffs von Musik und musikalischem Handeln. Das zweite Merkmal ist die Tatsache, daß Musik nicht nur das Ohr, sondern alle Sinne anspricht, sich mit Sprache verbindet und auch Beziehungen zur gegenständlichen und bildhaften Welt herstellt. Das dritte Merkmal schließlich ist, daß Gegenstand von Musikerziehung nicht nur die sogenannte klassische, sondern ebenso die populäre, ethnische Musik und die multimediale Musikszene ist. Da die Basis von Musikpädagogik also in der körperlichen Bewegung liegt, sollen zunächst die Beziehungen zwischen Bewegung und Wahrnehmung, der sensomotorische Zusammenhang erläutert werden.

 

3. Die Einheit von Bewegung und Wahrnehmung: Senso-Motorik

 

Menschliches Leben spielt sich auf vier Ebenen ab, die untrennbar verbunden sind: wir nehmen uns und unsere Umwelt wahr, bewegen uns, fühlen und denken. Von der Wahrnehmung werden Bewegung, Gefühl und Denken beeinflußt. Die Gedanken beeinflussen Wahrnehmung, Gefühl und Bewegung. Die Gefühle hängen von Wahrnehmung, Bewegung und Gedanken ab und die Bewegung von Wahrnehmung, Gefühlen und Gedanken (Feldenkrais 1978, S. 31ff, S. 56ff). Sowohl in der phylo- als auch in der ontogenetischen Entwicklung ist jedoch der Kreislauf von Wahrnehmung und Bewegung das Primäre, über den sich schon im Mutterleib und in den ersten zwei Lebenjahren wesentliche Erfahrungen einprägen. Piaget bezeichnet die ersten Jahre des Kindes als „sensumotorische Phase“, in der sich die „sensumotorische Intelligenz“ als Basis menschlichen Vermögens entwickelt. Zwar werden die Handlungen immer klarer von den Gedanken, Gefühlen, Assoziationen bestimmt, und die Verantwortung geht vom Sensorium auf das ganze Gehirn über; die „höheren“ Tätigkeiten des Gehirns, Fühlen und Denken, sind jedoch stets auf das Funktionieren der basalen sensomotorischen Fähigkeiten angewiesen. Die Arbeit von Moshé Feldenkrais (1904-1984) und seiner Schüler beruht auf dem Zusammenhang der vier Ebenen menschlicher Existenz, auf der Einsicht, daß die senso-motorische Ebene für die Initiierung und Beobachtung von Lernprozessen am zugänglichsten ist und daß sich eine Erweiterung der sensomotorischen Kompetenz auch positiv auf die emotionale und kognitive Ebene auswirkt. Feldenkrais´ These von der Wirkung sensomotorischer Erfahrung auf die Hirnfunktionen, die in dem Buchtitel „Bewußtheit durch Bewegung“ (1968) und in seiner ebenso benannten Lehrmethode zum Ausdruck kommt, leuchtet ein, wenn man sich vergegenwärtigt, „daß es die Hauptaufgabe des Gehirns ist, adaptives Verhalten zu erzeugen - nämlich Bewegungen“ (Thompson 1994, S. 338). Feldenkrais versteht sich nicht als Therapeut, sondern als Lehrer, der es dem Schüler durch differenzierte verbale und taktile - ästhetische - Impulse ermöglicht, „individuelle Bewegungs-, Haltungs- und Handlungsmuster in ihren motorischen, emotionalen und kognitiven Verflechtungen wahrzunehmen und neue bzw. vergessene Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entdecken. Dies bedeutet, von einem Potential Gebrauch zu machen, welches uns zur Verfügung steht, dessen Vorhandensein uns jedoch aufgrund selbst- und/oder fremdgesetzter Begrenzungen durch Erziehung und Gewohnheit nicht bewußt und damit nicht verfügbar ist“ (Held 1994, S. 148).

 

Sensomotorik, - die unlösliche Verbindung des sensorischen (afferenten) und motorischen (efferenten) Nervensystems, - umfaßt Aspekte unserer Existenz, die sich wie Kehrseiten einer Münze verhalten: wir erhalten über die Sinne - durch Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen, Tasten (die heterozeptiven Sinne) sowie durch den kinästhetischen bzw. vestibulären (propriozeptiven) Sinn - Informationen von der Außen- und Innenwelt (dies ist die ´afferente´ Seite), und unser Körper ist in ständigen inneren und äußeren Veränderungen begriffen, wir bewegen uns und handeln (dies ist die ´efferente´ Seite). Wir sind nicht entweder passiv Wahrnehmende oder aktiv Handelnde, sondern befinden uns in einem Regelkreis: die Wahrnehmung hat auch Teil an der Bewegung und die Bewegung hat auch Teil an der Wahrnehmung. Die Balance zwischen beiden Systemen, zwischen „Merkwelt und Wirkwelt“ (v. Weizsäcker) ist jedoch häufig gestört. „Dem Übermaß des Reizangebots ohne motorische Konsequenz entspricht in der industriellen Welt ein Übermaß an motorischer Aktivität ohne sensorische Relevanz“ (Wieser 1979, S. 54). Die Fülle der  Sinnesreize, die ‚Sensationen‘ lähmen das Handeln und den Aktivitäten fehlt die sinnliche – sinnvolle Basis.  Das sich daraus ergebende Problem ist für Wieser die Frustration: „Ein frustrierter Mensch ist einer, dem der adäquate sensorische Anlaß zum Tun ebenso fehlt wie ihm die motorische Erfüllung eines Großteils seiner Wahrnehmungen mangelt“ (S. 54). Die Frustration richtet sich nach innen und nach außen, weder die Wahrnehmungen noch die Aktionen können befriedigen. Das Gleichgewicht zwischen den Eindrucks- und Ausdruckmöglichkeiten ist nicht nur in der „industriellen Welt“, sondern häufig auch im zwischenmenschlichen -auch im pädagogischen - Alltag gestört.  Frustration als Folge dieser Störung aber führt entweder zu Aggression  oder zu Apathie.

 

Das Gegenteil von Frustration sind Befriedigung, Wohlbefinden und Spaß, die sich einstellen, wenn wir auf die Sinneseindrücke angemessen reagieren können. „Die Möglichkeit, Sinneswahrnehmungen sinnvoll ordnen zu können, vermittelt uns Befriedigung und die Befriedigung wird noch größer, wenn Empfindungen auch mit angepaßten Reaktionen beantwortet werden können..... Ein Kind, das Erfahrungen mit Anforderungen macht, auf die es sinnvoll reagieren kann, hat Spaß. In gewissem Sinn ist Spaßhaben ein Inbegriff für gute sensorische Integration des Kindes“ (Ayres 1984, S. 9). Für Jean Ayres ist unser gesamtes Verhalten „der sichtbare Aspekt der Wahrnehmungsverarbeitung unserer Sinnesreize“ (S.36). Das Ziel ihres Förderkonzepts ist die „Sensorische Integration, ....die Fähigkeit des sinnvollen Ordnens und Verarbeitens sinnlicher Eindrücke.“ (S. 37)  Befriedigung und Spaß sind dabei keine zufälligen Beigaben, sondern die Garantie, daß wir uns im sensomotorischen Gleichgewicht befinden. Wohlbefinden und Spaß drücken sich in Mimik und Gestik, in Lächeln und Lachen aus. Die Bewegungen und der Ausdruck des Lächelns und Lachens regen die Produktion der körpereigenen Opiate (Endorphine) an und versetzen uns in einen Zustand des Wohlbefindens. (Dunbar 1996, S.232f.) Von daher ist die folgende Äußerung von Feldenkrais zu verstehen: „Lernen kann Früchte tragen nur, wenn der ganze Mensch dabei bereit ist zu lächeln und dieses Lächeln jederzeit und unmittelbar in Lachen übergehen kann“ (1992, S. 20).

 

Die „sensomotorische Balance“, die Gleichgewichtigkeit und Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung, Bewegung und Bewegungsempfindung ist es, die die Aufmerksamkeit ganz auf die Gegenwart, den jetzigen Moment, fokussiert, uns ´präsent´ sein läßt. Bei Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Konzentration handelt es sich weniger, wie häufig angenommen wird, um rein mentale, sondern vor allem um physische, senso-motorische, ästhetische Prozesse.

 

Der sensomotorische Zusammenhang wurde deshalb ausführlich erläutert, weil er für Musik und musikalisches Handeln grundlegend ist: wir nehmen Musik nicht nur mit den Ohren, sondern - durch ihre Bewegungsimpulse und Vibrationen - mit dem ganzen Körper wahr, Musik ist einerseits ein Stimulus, der Bewegung provoziert; andererseits kann die Bewegung durch den Ausdruck, die Darstellung und die Ordnung der Musik geordnet, strukturiert werden. Solange gesellschaftliche oder religiöse Normen nicht daran hindern, sind Bewegung und Körperausdruck der unmittelbarste Auslöser von und die direkteste Antwort auf Musik. Musik wird durch Bewegung intensiver erlebt und Bewegung wird durch Musik nicht nur stimuliert, sondern auch strukturiert. Die sensomotorische Balance kann durch Musik in besonderer Weise hergestellt werden. Das Ziel von Musikerziehung, die Erschließung und Förderung der musikalischen Bedürfnisse und Fähigkeiten kann nun konkretisiert werden: es geht um die Bedürfnisse und Fähigkeiten nach bzw. von Bewegung und Wahrnehmung und um die unmittelbar damit zusammenhängenden Bedürfnisse und Fähigkeiten des Ausdrucks und der Kommunikation.

 

4. Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsförderung

    mit Musik

 

Aus den in jedem Menschen angelegten, eng miteinander zusammenhängenden Dispositionen, sich zu bewegen, sich und die Umwelt wahrzunehmen, sich auszudrücken und zu kommunizieren, entwickeln sich unter dem Einfluß der Umwelt die Bedürfnisse und Fähigkeiten von Bewegung, Wahrnehmung, Ausdruck und Kommunikation, die als die grundlegenden musikalischen Bedürfnisse und Fähigkeiten anzusehen sind.

 

* Bewegung ist jede äußere (sichtbare) bzw. innere (meist unsichtbare) Veränderung des Körpers oder seiner Teile bzw. des Körpergefühls oder der Körpervorstellung. Verändern kann sich die Stellung oder Lage sowie der Spannungszustand des Körpers im Jetzt, Vorher und Nachher der Zeit. Bewegung ist das allgemeinste und eines der wesentlichen Merkmale sowohl des Menschen als auch der Musik. Musik kann in besonderer Weise zur Bewegung stimulieren und die Bewegung gleichzeitig strukturieren. Ziel ist die flüssige, strukturierte und koordinierte Bewegung sowie die Freude am Sichbewegen.

 

* Wahrnehmung ist die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf die Sinneseindrücke aus der Umwelt und aus dem Innern zu richten und diese als bedeutsam zu bemerken. Die Eindrücke werden durch die nach außen gerichteten (heterozeptiven) Sinne - Hören, Sehen, Tasten, Fühlen - und durch den nach innen gerichteten  (propriozeptiven/kinästhetischen) Sinn vermittelt. (Was höre, sehe, spüre ich? – was geht in mir vor?) „Bedeutung“ kann in Ausdruck, Darstellung und Gestalt/Ordnung der Musik liegen, „Kategorien“, die noch erläutert werden. Musik spricht die Sinne in besonderer Weise an und kann die Sinneseindrücke durch ihre Ausdrucks-, Darstellungs- und Gestalthaftigkeit strukturieren kann. Ziel ist vor allem Aufmerksamkeit, Reaktions-, Assoziations- und Unterscheidungsfähigkeit.

 

* Ausdruck sind die psychischen Gehalte (Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Willensakte), die durch Ausdrucksmedien (Körperbewegung und -haltung, Gestik, Mimik, Stimme, Instrumente und Materialien) hörbar und sichtbar werden. Ausdrucksförderung mit Musik zielt vor allem auf die nonverbalen (analogen), klanglichen und bewegungshaften Ausdrucksmöglichkeiten.

 

* Kommunikation ist jeder Akt, in dem mit Hilfe der genannten Ausdrucksmedien Verbindung zur Umwelt hergestellt wird. Kommunikationsförderung mit Musik zielt weniger auf die Vermittlung von (rationalen) Botschaften, als vielmehr die Herstellung von (emotional getönten) Kontakten, spielt sich mehr auf der Beziehungs- als auf der Inhaltsebene ab. Rhythmen, Klänge, Lieder, Bewegungen usw., die als „Kommunikationszeichen“ fungieren, sind weniger unter dem Aspekt von richtig-falsch (Syntax/Semantik) als mehr unter dem Aspekt ihres Aufforderungscharakters (Pragmatik) zu sehen.

 

Musikalische Förderung geht zum Einen davon aus, daß Befriedigung und Wohlbefinden sich wesentlich dem Gelingen von Bewegung, Wahrnehmung, Ausdruck und Kommunikation verdanken, daß menschliche Probleme zu einem guten Teil auf der Störung dieser Fähigkeiten, vor allem auf dem gestörten Gleichgewicht zwischen ihnen bestehen und daß im musikalischen Erleben und Handeln diese Balance ein Stück weit wiederhergestellt werden kann.

 

Musikalische Förderung geht zum Andern davon aus, daß zwischen den genannten Fähigkeiten und der Musik enge Korrespondenzen bestehen, die vor allem mit der Affinität von Kindern und Jugendlichen zur Musik, mit ihrer „Lust, sich musikalisch auszudrücken“ zusammenhängen. Weitere Korrespondenzen werden in den weiter unten erläuterten Kategorien Gestalt/Ordnung, Darstellung und Ausdruck sowie den methodischen Prinzipien Bewegung, Wiederholung und Stimulierung/Strukturierung deutlich.

 

Die folgende Grafik will nochmals auf den Zusammenhang dieser Fähigkeiten aufmerksam machen.

 

 


Bewegung

Senso-Motorik

 


                  

                                     Ausdruck                                              Kommunikation                                                    

                                 durch Bewegung                                         durch Bewegung

                                Stimme/Instrument                                     Stimme/Instrument

 

 


Wahrnehmung

Senso-Motorik

 

 

Die basale Bedeutung des in der Vertikalen dargestellten sensomotorischen Zusammenhangs wurde eingehend erläutert. Die enge Beziehung zwischen auditiver Wahrnehmung und Bewegung, die Tatsache, daß Musik Bewegung geradezu provoziert, erklärt sich aus der engen Verbindung zwischen Gehör und dem für Bewegungsempfindung zuständigen vestibulären System im Innenohr sowie aus der Verknüpfung der für Wahrnehmung und der für Bewegung zuständigen Nervenzentren. Auch die in der Grafik horizontal angeordnete Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit ist in hohem Maß von den sensomotorischen Gegebenheiten abhängig. Der Anteil der Bewegung an unserem Ausdrucks- und Kommunikationsverhalten ist nicht zu übersehen.

 

 

Die Stimme

 

Am Ausdrucks- und Kommunikationsmedium Stimme interessieren vor allem die "motorische" und die "klangliche" Ebene, die entwicklungsgeschichtlich der Bedeutungsebene vorausgehen. Es geht zum einen um die Bewegungs- und Artikulationsmöglichkeiten, um die Beweglichkeit von Lippen, Kiefer, Zunge, Gaumen, Atemapparat usw. zum andern um die vielfältigen Unterschiede in Dynamik, Höhe und Tiefe, Klangfarbe und Timbre. Diese präverbalen bzw. paralinguistischen Aspekte stellen die musikalische Ebene der Stimme dar. Stimm- und Sprachförderung mit Musik spielt sich auf dieser Ebene des spielerischen Umgangs mit den Bewegungs-, Artikulations- und Klangmöglichkeiten der Stimme ab. Musik kann weniger zum Verstehen der Worte als vielmehr zur Motivation, die Stimme zu gebrauchen sowie zur allgemeinen klanglichen und artikulatorischen Unterscheidungsfähigkeit beitragen.

 

Instrumente

 

Instrumente dienen nicht nur der Reproduktion von Musik, sondern sind auch Medien zur Förderung der genannten Fähigkeiten. Am wichtigsten sind die Instrumente mit direktem Körperbezug, deren Spiel im Grunde eine Erweiterung des Händeklatschens oder Kniepatschens darstellt. Auf ihnen sind sehr einfache, aber auch recht komplexe Spielbewegungen möglich, sie können einerseits ohne Vorkenntnisse, andererseits aber auch mit höchst differenzierten erlernten Spieltechniken gespielt werden. Es handelt sich um die unter pädagogischen Gesichtspunkten entwickelten Orff-Instrumente sowie die lateinamerikanischen und afrikanischen Perkussionsinstrumente, die vor allem dem Bedürfnis nach Bewegung entgegenkommen. In Zusammenhang mit Tendenzen der Neuen Musik, neue Klangwelten zu erschließen, ist die häufig geübte Praxis zu sehen, mit Kindern und Jugendlichen, Instrumente aus Alltagsmaterialien herzustellen. Solche Phantasieinstrumente aus Holz, Metall, Plastik usw. sprechen nicht nur die Klangphantasie, sondern auch das Gestaltungs- und Ausdrucksvermögen an und können wichtige Kommunikationsmedien sein.

 

Welche pädagogischen Möglichkeiten traditionelle Musikinstrumenten bieten, - wenn Schule und Musikschule kooperieren und Musiklehrer sich pädagogisch fortbilden - zeigt Werner Probst in seinen Modellversuchen und in seinem Buch „Instrumentalspiel mit Behinderten“ (1991).

 

Materialien und Medien

 

Eine große Bedeutung als Ausdrucks- und Kommunikationsmedien sowie als Instrumente zur Bewegungs- und Wahrnehmungsförderung haben „stumme Instrumente“ wie Bälle, Tücher, Bänder, Reifen, Säckchen, Puppen, Netze, Plastikplanen usw. Diese Materialien, die auch das Auge und den Tast- und Greifsinn einbeziehen, können Mittler oder Stellvertreter sein bei Hemmungen, sich selbst zu bewegen, auszudrücken und zu kommunizieren, und sie können ein Mittel sein, um Gestalt / Ordnung, Darstellung und Ausdruck der Musik zu verdeutlichen. Solch motivierende und gleichzeitig strukturierende Funktion können auch Requisiten zum Verkleiden oder Masken übernehmen. Beim Schwarzen Theater oder beim Schattenspiel wird in unterschiedlicher Weise das Licht als Medium eingesetzt. Hier spielt vor allem die Tatsache eine Rolle, daß „aus dem Versteck“, hinter der Schattenwand oder im Schutz des „schwarzen“ Lichts, agiert werden kann, daß die Verfremdungseffekte zu Bewegung, Ausdruck und Kommunikation motivieren und daß die Wahrnehmung durch das Medium Licht besonders angesprochen und sensibilisiert wird. Nicht zu vergessen ist, daß diese stummen Instrumente und das Spiel mit dem Licht ein Eigenleben entwickeln und eigene Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsformen provozieren können. Durch die multimediale Ausweitung wird in jedem Fall der Spielraum der Schüler erweitert, und er erhält einen erweiterten Begriff von Musik.

 

Die Bewegung - als elementares sichtbares Zeichen des Lebens vom ersten Augenblick unserer Existenz an - verbindet die vier Fähigkeiten. In der körperlichen Bewegung spiegeln sich nicht nur unsere Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken, sie ist auch das wichtigste Medium für Ausdruck und Kommunikation.

 

5. Musikalische - allgemeine - behinderte Fähigkeiten

 

Das Besondere musikalischer Förderung liegt darin, daß es sich bei den dargestellten Fähigkeiten nicht nur um musikalische, sondern auch um allgemeine, lebensnotwendige Fähigkeiten handelt und daß sie – als „behinderte Fähigkeiten“ - Indikatoren für menschliche Schwierigkeiten und darstellen und vor allem Hinweise auf Fördermöglichkeiten liefern.

 

Es handelt sich um musikalische Fähigkeiten, weil sie von Musik in besonderer Weise angesprochen werden und für musikalische Tätigkeit unerläßlich sind. Musik kann nur im Zusammenhang von Wahrnehmung und Bewegung gemacht und gehört werden. Es gibt keine Tätigkeit, bei der die Fähigkeiten von Bewegung, Wahrnehmung, Ausdruck und Kommunikation so beansprucht sind wie bei musikalischer Tätigkeit.

 

Diese Fähigkeiten sind allgemeine Fähigkeiten, weil sie nicht nur für musikalisches, sondern für jegliches Erleben und Handeln notwendig sind. Durch den Gebrauch dieser vier „Sinne“ erhält das Leben Sinn. Sie stellen sowohl die Basis als auch die höchste Entfaltung menschlicher Existenz dar, machen uns zu unverwechselbaren Individuen und ermöglichen Gemeinsamkeit.

 

Diese Fähigkeiten kann man als behinderte Fähigkeiten bezeichnen, weil in ihnen – wenn sie nicht gefördert, sondern in ihrer Entwicklung gehindert werden -  nicht nur der Reichtum, sondern auch die Not menschlicher Existenz deutlich wird. Die Art, wie ein Mensch seine Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit gebraucht, gibt Hinweise nicht nur auf seine Stärken, sondern auch auf seine Schwächen. Insofern haben diese Fähigkeiten eine diagnostische Funktion.

 

Die "Diagnose" soll im Sinn einer Förderdiagnostik bei Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsspielen die Spielräume des Einzelnen im Gebrauch seiner Fähigkeiten – im Blick auf die noch zu erläuternden Kategorien und Prinzipien - ausloten und durch Fortführung und Differenzierung dieser Spiele zur Erweiterung des Spielraums, zur Verbesserung und Förderung der Fähigkeiten beitragen.

 

Der Aspekt der behinderten Fähigkeiten soll also den Blick weniger auf die Grenzen, als vielmehr auf die Erweiterungs- und Differenzierungsmöglichkeiten lenken - seien diese  noch so gering. Der Aspekt der allgemeinen Fähigkeiten stellt den Bezug zu ihrem alltäglichen Gebrauch her und verhindert, daß ein zu enger Begriff von Musik und musikalischen Fähigkeiten zugrunde gelegt wird. Der Aspekt der musikalischen Fähigkeiten schließlich weist hin auf das Besondere musikalischer Förderung, d.h. auf die besonderen Merkmale, das Exemplarische von Bewegung, Wahrnehmung, Ausdruck und Kommunikation in Zusammenhang mit Musik und gleichzeitig auf das Exemplarische des Liedes, Verses, Tanzes, Musikstücks usw.  

 

Das Exemplarische der musikalischen Fähigkeiten und der Musik, worauf es beim Förderprozeß ankommt, sind die Kategorien Gestalt/Ordnung, Darstellung und Ausdruck, sowie die methodischen Prinzipien Bewegung, Wiederholung, und Stimulierung/Strukturierung, die im Folgenden näher erläutert werden.

 

6. Das Besondere musikalischer Förderung

 

6.1 Die Kategorien Gestalt/Ordnung, Darstellung und Ausdruck

 

Man kann Musik unter drei Aspekten oder Kategorien betrachten, die eng zusammenhängen und sich gegenseitig bedingen. Musik ist a) ein Spiel nach verschiedenen Ordnungs-, bzw. Gestaltungskriterien, sie ist b) Darstellung bzw. Nachahmung von außermusikalischen Gegebenheiten, Vorgängen, Vorstellungen und sie ist c) emotionaler Ausdruck. Wir freuen uns am Spiel der Töne und Klänge auch wenn wir die Regeln nicht durchschauen, Musik ruft Vorstellungen und Assoziationen hervor und wir lassen und von ihrer Stimmung anstecken. Beim Singen, Spielen, Tanzen, Hören usw. steht in der Regel eine der drei Kategorien im Vordergrund, Bewegung, Wahrnehmung, Ausdruck und Kommunikation werden von der Ordnung, der Darstellung und dem Ausdruck der Musik bestimmt. Musikalische Förderung besteht im Wesentlichen  im Nachvollzug, in der Aneignung dieser drei Kategorien. Sie geben an, was an der Musik erschlossen und in welche Richtung die Fähigkeiten gefördert werden sollen.

 

a) Wenn die Kategorie Gestalt/Ordnung im Vordergrund steht, geht es vor allem um die Gestaltung der Zeit und des Klangraums. Was die Zeit angeht, müssen die Anpassung an das Zeitmaß, das Metrum (die Unterscheidung von schneller und langsamer), an unterschiedliche Schwerpunkte des Taktes und die Unterscheidung verschiedener Zeitproportionen (Rhythmen) gelernt werden. Dabei ergeben sich aus kleinen Einheiten von zwei Impulsen oder einem Takt immer größere und schließlich ganze Bewegungs-, Tanz-, Spiel- oder Liedformen. Im Bezug auf den Klangraum geht es vor allem um die Unterscheidung von laut-leise, hell-dunkel, hoch-tief sowie von verschiedenen Klangfarben und -ebenen.

 

Konkret bedeutet dies z.B.:

-         auf Musik und auf Stille unterschiedlich zu reagieren,

-         die Bewegungen von Händen, Füßen und Stimme der Musik anzupassen,

-         unterschiedliche Bewegungen, Bewegungsfolgen und Rhythmen zu gestalten und sich zu merken,

-         die Bewegungen von Händen, Füßen, Stimme und Körper zu koordinieren,

-         auf verschiedene Musiken, Instrumente, Lautstärken  usw. unterschiedlich zu reagieren,

-         einen Rhythmus oder Vers nur innerlich zu vollziehen,

-         die Klangräume von Stimme und Instrumenten zu erkunden,

-         mit unterschiedlichen Gestaltungsprinzipien zu umzugehen (z.B. Wiederholung, einer-alle, einer nach dem andern, lauter/leiser, schneller/langsamer werden usw.).

 

Kriterien für das Lernen und die Förderung sind Sicherheit, Strukturiertheit, Koordination, Flüssigkeit, Länge, Wiederholbarkeit, Schnelligkeit in Bewegung, Wahrnehmung, Ausdruck und Kommunikation des Schülers.

 

b) Die Kategorie Darstellung ist im Spiel, wenn mit Musik etwas dargestellt oder nachgeahmt wird, wenn Musik Vorstellungen und Assoziationen auslöst, wenn sie ein „Programm“ enthält.

 

Konkret bedeutet dies z.B.:

-         mit Bewegungen, Stimme und Instrumenten unterschiedliche (außermusikalische) Gegebenheiten darzustellen (z.B. Zwerge, Riesen, Tiere, Maschinen),

-         Geschichten, Bilder, Dias, Filme usw. musikalisch darzustellen,

-         Lieder darzustellen,

-         zu Musik zu malen,

-         beim Musikhören Assoziationen entwickeln,

-         auf „Phantasiereisen“ gehen.

 

Kriterien für das Lernen und die Förderung ergeben sich aus der Frage, inwieweit und wie originell sich die vorhandenen oder vorgestellten Inhalte im musikalischen Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsverhalten des Schülers wiederfinden.

 

c) Die Kategorie Ausdruck ist maßgebend, wenn sich die Aufmerksamkeit auf die von der Musik ausgelösten Stimmungen und Gefühle (Freude, Trauer, Zorn usw.) richtet und diese sich im Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsverhalten des Schülers wiederspiegeln. Die Schüler müssen immer wieder auf die Gefühlshaftigkeit der Musik aufmerksam gemacht und zum spielerischen Umgang mit Gefühlsqualitäten beim Singen, Sprechen und Spielen ermuntert werden.

 

Konkret bedeutet dies vor allem:

-         Gefühlsqualitäten, die in Musikstücken, Liedern oder Versen vorkommen, stimmlich, mimisch, gestisch, mit Instrumenten und auch mit Worten auszudrücken,

 

Kriterien für das Lernen und die Förderung sind die Individualität und Authentizität des Ausdrucks.

 

Diese drei Kategorien hängen zusammen, können jedoch in jeder Musik unterschiedliche  Bedeutung haben und können auch vom Lehrer verschieden gewichtet werden. Er muß entscheiden, welche Kategorie jeweils von der Musik her und im Blick auf die Schüler am ergiebigsten ist. Die genannten Kategorien gelten sowohl für die Musik als auch für das Verhalten des Schülers: der Gestalt/Ordnung, der Darstellung, dem Ausdruck der Musik auf der einen Seite entspricht auf der anderen Seite die menschliche Fähigkeit, zu gestalten und zu ordnen, darzustellen und sich auszudrücken.

 

 

 

6.2 Die methodischen Prinzipien Bewegung, Wiederholung,

Stimulierung / Strukturierung

 

Methodische Prinzipien sind keine austauschbaren Methoden, sondern Grundlagen, Grundsätze für den Weg (=Methode) der Förderung. Mit der Betonung der Methode soll  gesagt werden, daß es weniger darauf ankommt, daß Musik gemacht und gehört wird, daß man sich bewegt, sondern vielmehr darauf, wie dies geschieht. Das „Wie“ wird durch die drei folgenden Prinzipien wesentlich bestimmt.

 

a) Bewegung ist nicht nur eine Fähigkeit, sondern auch das wesentlichste Prinzip des Förderkonzepts, das besagt, daß die Schüler immer wieder auf die sensomotorische Ebene gelockt, in Bewegungszusammenhänge involviert werden müssen. Musik ist Bewegung, d.h. ein ständiges Fortschreiten von einem zum nächsten Zeitpunkt und musikalisches Lernen und musikalische Förderung geschieht, indem durch "Bewegungshandeln" (Gehen, Tanzen, Klatschen usw.) Beziehungen zwischen der musikalischen und der körperlichen Bewegung hergestellt werden. Das bedeutet, daß der Lehrer immer wieder nach Wegen suchen muß, wie er Gestalt/Ordnung, Darstellung und Ausdruck der Musik über konkrete Bewegungen bzw. über Bewegungsvorstellungen erlebbar machen kann. Da Bewegung jedoch – wie oben erläutert - nicht von der Wahrnehmung zu trennen ist, beinhaltet das Prinzip Bewegung auch, daß die Bewegung als etwas Eigenes, Innerliches wahrgenommen wird in Erfahrungen von Ruhe und „Stilleübungen“.

 

b) Wiederholung ist das wesentlichste formbildende Moment der Musik, nicht nur als "wörtliche" Wiederholung, sondern auch als Variante, Sequenz, in der Wiederkehr der Impulse, Takte, Perioden, im Gleichklang der Versreime usw. Sie hält die Bewegung in Gang, fordert Aufmerksamkeit und bringt Orientierung und Sicherheit. Lernen als Verknüpfung der sensomotorischen Systeme, als Bahnung der Verbindungen (Synapsen) zwischen den Neuronen ist ohne Wiederholung schwer möglich. Nur durch beständige Wiederholung werden aus isolierten Impulsen flüssige Bewegungen. Während "trockene" Wiederholung ermüdet, ist musikalische Wiederholung - vor allem durch die damit verbundenen Bewegungserfahrungen - mit Lust und Vergnügen verbunden. Wiederholung braucht jedoch Zeit. Obwohl die sensomotorischen Fähigkeiten, die „sensumotorische Intelligenz“ (Piaget) die Basis unseres Fähigkeitspotentials darstellt, wird ihrer konsequenten Entwicklung nicht annähernd so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie dem Lernen von Lesen, Schreiben und Rechnen.  Das bedeutet, daß der Lehrer viel mehr Mut  und Zeit für Wiederholungen haben müßte.

 

c) Das Prinzip Stimulierung-Strukturierung bedeutet, daß Musik einerseits innere und äußere Bewegung provozieren, Assoziationen und Emotionen freisetzen und andererseits Ordnung, Regelhaftigkeit, Struktur vermitteln kann. Die Spannung bzw. Balance zwischen Entgrenzung und Grenzsetzung, zwischen Emotionalität und Rationalität, die als Wohlgefühl oder Ergriffensein erlebt wird, stellt sich jedoch in der Regel nicht von selbst ein, sondern muß von den musikalisch Agierenden immer wieder hergestellt werden. Die Rolle des Lehrers dabei kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

 

 

6.3 Die Rolle des Lehrers

 

Der Lehrer muß die Schüler vor allem zu vielfältigen Bewegungserfahrungen motivieren können. Die „Unlust“ von Schülern an Bewegung besteht zumeist aus Unsicherheit und Angst, die überwunden werden können. Er muß Ausdauer für Wiederholungen und Phantasie zu Variationen besitzen und er muß die beschriebene Spannung bzw. Balance zwischen Stimulierung und Strukturierung herstellen und im Blick auf die Situation sowie auf die Fähigkeiten der Schüler kalkulieren und dosieren können. Für die Auswahl und Anordnung der Musik  muß er Didaktiker und Methodiker, für das musikalische Spiel aber vor allem Animateur sein, der die musikalische Spannung verkörpert und über das Medium seines Körpers, über seine Bewegungen weitergibt, d.h. er muß in erster Linie über nonverbale Fähigkeiten und Techniken verfügen. Die Schüler können nur das lernen, was der Lehrer selbst kann. Ob sie gefördert werden, hängt im Wesentlichen von der Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit des Lehrers ab. Diese Fähigkeiten können jedoch - auch vom Lehrer - nicht auf diskursivem Weg, sondern nur durch sinnliche Erfahrung, durch learning by doing erworben werden.

 

7. Zur Praxis

 

7.1 Neuere musikdidaktische Konzepte

 

Zur Erreichung des eingangs genannten Ziels der Erschließung der Musik und der Förderung der genannten Fähigkeiten sind Konzepte nötig, die von einem weiten Begriff von Musik ausgehen und sich auf diese Fähigkeiten, vor allem auf die Körperlichkeit des Schülers beziehen. Solche Konzepte und Anregungen für die Praxis finden sich in neueren Schulbüchern, in den Konzepten der Rhythmisch-musikalischen Erziehung, im Orff-Schulwerk  und vor allem in folgenden Veröffentlichungen:

 

- Reinhard Flatischler: Der Weg zum Rhythmus

- Volker Schütz: Musik in Schwarzafrika

- Renate Müller: Rock-und Poptanz mit Kindern und Jugendlichen

- Zeitschrift „Praxis des Musikunterrichts“

- Zeitschrift „Musik in der Grundschule“

- Anneliese Bergmann / Arnold Reusch: Musik zum Bewegen

- Meinolf Neuhäuser u.a.: Musik zum Mitmachen

- Hermann Handerer: Wechselspiel: Musik und Bewegung

- Werner Rizzi: Musikalische Animation

- Björn Tischler / Ruth Moroder-Tischler: Musik aktiv erleben

- Björn Tischler: Musik aktiv gestalten

- Juliane Ribke: Elementare Musikpädagogik

- Hermann Große-Jäger: Tanzen in der Grundschule

- Peter Tomanke: Unser Liederbuch 2 / Tanzen

- Gabriele Wosien: Sakraler Tanz

- Franz Amrhein: Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks-  und

  Kommunikationsförderung durch Musik

- Franz Amrhein: Sprachförderung durch Musik- Franz Amrhein: Sensomotorisches und musi-

  kalisches Lernen

 

7.2 Ein Lehrplan

 

Eine Konzeption für die Praxis, die versucht, den bisher dargestellten Zusammenhängen gerecht zu werden, liegt vor in dem Hessischen „Rahmenplan Ästhetische Bildung: Musik - Schule für Lernhilfe“ (Hessischer Kultusminister, 1996). Dieser Plan schlägt zwölf „Lernfelder“ zur Strukturierung des Unterrichts vor, zwischen denen vielfältige Beziehungen bestehen. Zu jedem Lernfeld werden Ziele, Inhalte und Hinweise zur Unterrichtspraxis genannt. Im Folgenden werden die Ziele der einzelnen Lernfelder aufgeführt. Diese Ziele nehmen deutlich Bezug auf die vier genannten Fähigkeiten und sagen nicht nur, was die Schüler lernen sollen, sondern machen auch deutlich, was der Lehrer können müßte, damit die Schüler gefördert werden.

 

LERNFELD: Bewegungsspiele

Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen:

·        die Bewegungsmöglichkeiten ihres Körpers zu entdecken,

·        Bewegungshemmungen zu überwinden und ihre Bewegungen selbst zu steuern,

·         Bewegungen nachzuvollziehen, zu erfinden und immer weiter zu differenzieren,

·        in der Bewegung musikalische Abläufe frei oder nach Regeln zu gestalten und auf akustische Reize und Signale zu reagieren,

·        sich auf Partner und Gruppe einzustellen und sich in Raum und Zeit zu orientieren,

·        klingende und stumme Materialien zur Gestaltung von Bewegung einzusetzen.

 

LERNFELD: Darstellendes Spiel

Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen:

·        auch mit den außerklanglichen Ausdrucks- und Darstellungsmöglichkeiten wie Pantomime, Puppen-, Finger-, Schatten-, Masken- und Rollenspiel umzugehen, um  ihre Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern.

 

LERNFELD: Tanz

Die Schülerinnen und Schüler sollen :

·        Tanz als Möglichkeit der Selbstdarstellung erfahren,

·        im Tanz Ausdrucks- und Kontaktfähigkeit entwickeln,

·        lernen, Bewegungsabläufe im Gedächtnis zu behalten, vorauszuplanen und in Beziehung zur Musik zu setzen,

·        Tanz als eine Möglichkeit der Freizeitgestaltung kennenlernen,

·        ihr Weltverständnis erweitern und Toleranz entwickeln, indem sie auch Tänze fremder Länder tanzen und Informationen über deren kulturelle Hintergründe erhalten.

 

LERNFELD: Klang-, Artikulations- und Sprachspiele

Die Schülerinnen und Schüler sollen :

·        die Klang- und Artikulationsmöglichkeiten ihrer Stimme entdecken,

·        Hemmungen vor dem Umgang mit der Stimme verlieren,

·        lernen, mit dem Instrument Stimme umzugehen und Freude an stimmlichen Aktionen zu gewinnen,

·        lernen, Sprache, Worte, Verse rhythmisch und klanglich zu gestalten und den Rhythmus als strukturierendes Element der Sprache erleben,

·        lernen, daß durch Klang und Tonfall der Stimme, durch die Art, wie etwas gesagt wird, Stimmungen, Empfindungen und Gefühle ausgedrückt werden können.

 

LERNFELD: Singen

Die Schülerinnen und Schüler sollen:

·        Lieder, Kanons, Popsongs und Schlager kennenlernen und singen - als Möglichkeit eigener Tätigkeit und eigenen Ausdrucks sowie als Aussage- und Ausdrucks-möglichkeit anderer Individuen, Gruppen und Kulturen,

·        lernen, beim Liedersingen Sprache, Rhythmus, Melodie, Begleitung, Bewegung, mimische und szenische Darstellung als gleichberechtigte Elemente des Liedes einzusetzen,

·        lernen, Lieder in der vorgegebenen Form nachzugestalten, aber auch mit den ver-schiedenen Elementen des Liedes spielerisch und kreativ umzugehen.

 

LERNFELD: Geräusche und Klänge aus der Umwelt

Die Schülerinnen und Schüler sollen:

·        ihre klingende Umwelt entdecken und lernen, daß mit jedem Material, mit jedem Gegenstand Musik gemacht werden kann,

·        lernen, diese Materialien in vielfältigen Aktionen zum Klingen zu bringen und diffe-renziert zu handhaben,

·        lernen, Klänge und Geräusche aus ihrer Umgebung zu unterscheiden und ihre Eindrücke und Vorstellungen zu äußern.

 

LERNFELD: Bau von Klangerzeugern - Instrumentenkunde - technische Medien

Die Schülerinnen und Schüler sollen:

·        lernen, aus verschiedenen Materialien und Gebrauchsgegenständen einfacheKlangerzeuger zu erfinden und damit spielerisch umzugehen,

·        beim Ausprobieren und Bauen Selbstbestätigung erfahren, Einsichten in akustische Gesetzmäßigkeiten sowie in Funktionsweisen und Spieltechniken verschiedener Musikinstrumente gewinnen,

·        Musikinstrumente aus der eigenen Kultur und aus fremden Kulturen kennenlernen,

·        lernen, mit technischen Medien Klänge aufzunehmen, wiederzugeben und zu verändern,

·        Einblick in die elektronische Produktionsweise von Musik gewinnen.

 

LERNFELD: Spiel mit Instrumenten

Die Schülerinnen und Schüler sollen:

·        lernen, mit Instrumenten zu experimentieren, zu improvisieren und nach musika-lischen Regeln zu spielen,

·        nach bestimmten Prinzipien (z.B. Wiederholung, Gegensatz, Frage - Antwort, einer- alle,  laut - leise) Musik gestalten und auch außermusikalische Vorstellungen und Inhalte (z.B. Wasser rauscht, Elefant - Maus, klingende Geschichten) zum Ausdruck bringen,

·        lernen, Lieder zu begleiten, Musikstücke - auch Popmusikstücke - zu spielen und mitzuspielen, aber auch selbst Musik zu planen und zu gestalten,

·        neben selbstgebauten und den Orff-Instrumenten vor allem Instrumente der Pop-musik (Schlagzeug, Keyboards, E-Baß, E-Gitarre) sowie außereuropäische Per-kussionsinstrumente zum Einsatz bringen,

·        auf geeigneten Perkussionsinstrumenten (Drumset, Bongos, Congas, afrikanische  Trommeln)  ihre rhythmischen Fähigkeiten entwickeln.

 

LERNFELD: Musikalische Hörübungen und Hörspiele

Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen:

·        Geräusche und Klänge zu unterscheiden,

·        Geräusche und Klänge im Gedächtnis zu behalten und dabei das Fassungsvermögen ihres musikalischen Gedächtnisses schrittweise erhöhen,

·        Geräusche und Klänge im Raum zu orten bzw. deren Bewegung im Raum zu verfolgen,

·        selektiv zu hören, d.h. das Wesentliche herauszuhören, das Unwesentliche zu überhören,

·        daß bestimmte Hörbedingungen das Hören, Erleben und Genießen von Musik günstig beeinflussen können (meditatives Hören; Entspannung),

·        daß bestimmte Hörbedingungen für das Gehör sowie die allgemeine körperliche, seelische  und geistige Gesundheit nachteilig oder schädigend sein können.

 

LERNFELD: Musik kann etwas ausdrücken und erzählen

Die Schülerinnen und Schüler sollen:

·        lernen, ihre Stimmungen, Gefühle und Assoziationen beim Musikhören zum Aus-druck zu bringen, indem sie darüber reden, zur Musik malen oder sich zur Musik bewegen,

·        lernen, Stimmungen, Gefühle und Vorstellungen in musikalische Aktionen umzusetzen,

·        erkennen, daß bestimmte Instrumente und Gestaltungen (elektroakustische Auf-bereitung, Sound) bestimmte Assoziationen, Stimmungen und Gefühle auslösen können und daß dadurch Musik auch zur Beeinflussung und Manipulation eingesetzt werden kann,

·        beim Hören von entsprechenden Beispielen erkennen, daß mit musikalischen Mitteln Geschichten, Bilder, Vorgänge und Sachverhalte dargestellt und untermaltwerden können, und lernen, solche Geschichten, Bilder usw. selbst musikalisch darzustellen und zu begleiten.

 

LERNFELD: Wie Musik gemacht ist

Die Schülerinnen und Schüler sollen:

·        musikalische Kriterien (gleich - verschieden, Wiederholung, Veränderung, Gegen-satz, laut - leise, schnell - langsam, Klangfarbe, Form) zum Hören, Unterscheiden und Beurteilen von Musik kennenlernen,

·        unter Berücksichtigung dieser Kriterien Musik hören, sich zur Musik bewegen, zur Musik malen, Musik in Zeichen / Noten umsetzen und über Musik reden.

 

 

 

 

LERNFELD: Musik in der Umwelt

Die Schülerinnen und Schüler sollen:

·        aufmerksam werden auf vielfältige Erscheinungsformen der Musik / des Musiklebens,

·        lernen, verschiedene Arten von Musik zu unterscheiden und sich in der Fülle des Musikangebots zu orientieren,

·        sich bewußt werden, daß Musik in verschiedenen Zusammenhängen stehen, verschiedene Absichten verfolgen sowie verschiedene Funktionen und Wirkungen haben kann,

·        erfahren, daß Musik eine Möglichkeit der Erholung und der Freizeitgestaltung ist, aber auch Möglichkeiten von Fremdbestimmung und Manipulation in sich birgt.

 

 

7.3. Ein Beispiel aus dem Bereich „Materialien und Medien“: Schattenspiel und

       Musik

 

7.3.1 Das Medium Schattenspiel

 

Im Schattenspiel werden nur die Schatten von Figuren oder Spielern sichtbar. Es motiviert in hohem Maße zu Bewegungen und zum Experimentieren mit den verschiedenen Bewegungsmöglichkeiten. Die Hauptkennzeichen sind :

- Zwischen Spielern und Zuschauern steht ein Medium, hinter dem sich die spielende Person "verstecken" kann und dennoch wird das Geschehen sinntragend übermittelt.

- Die Spieler müssen nicht sprechen (Schatten sprechen nicht), die Sprache kann von außen durch eine Tonbandaufnahme oder einen Sprecher ins Spiel gebracht werden.

- Musik übernimmt eine tragende Funktion. Sie kann das Geschehen verstärken und deuten, Atmosphäre schaffen, Impulse setzen sowie Bewegungen der Spieler inspirieren und koordinieren. Sie kann Vorlage sein für eine Bewegungsgestaltung  oder für das Spiel mit Farben und Formen, die durch Licht und Material entstehen.

- Durch technische Manipulationen mit der Lichtquelle und unterschiedlichen Materialien lassen sich effektvolle gestalterische Ergebnisse erzielen.

 

Während beim Figurenschattenspiel die vorgefertigten Figuren an Leisten oder Drähten über die Leinwand geführt werden, die Spieler selbst unsichtbar bleiben, erscheinen beim Personenschattenspiel die Schatten der Spieler selbst auf der Leinwand. Dazu wird in einem verdunkelten Raum ein weißes Tuch von ca. 5m Breite und 3m Höhe aufgespannt und von hinten beleuchtet. Die Möglichkeiten des Experimentierens und Gestaltens ergeben sich aus Spielen mit dem Körper, mit Materialien und mit dem Licht auf der Leinwand sowie auf der Fläche eines Overheadprojektors (OHP). Der Körper selbst erscheint als Schatten zweidimensional, also körperlos. Proportionen und Größen lassen sich durch unterschiedliche Entfernung von der Lichtquelle und die Position der Spieler (Profil, en face, Mischformen) variieren. Überschneiden sich Körperschatten, so entstehen "Klecksbilder", aus denen man phantastische Wesen entwickeln kann. Eine Veränderung der Körperform ist leicht herbeizuführen durch Materialien, die an Körperteilen befestigt werden (Papier, Pappe, Schaumstoffteile, auch durchsichtige Materialien wie Plastikfolie). So können Gesichtsprofile und Hände (z.B. durch Nasen und Riesenfingernägel), ja ganze Körper bis ins Groteske verändert und die Spieler nicht mehr identifiziert werden. Requisiten wie Hüte, Stöcke, Schirme ergänzen das Spiel, entfalten aber auch Eigenleben, wenn sie z.B. optische Täuschungen hervorrufen. Bekannt ist die Operation, bei der ungewöhnliche  Dinge aus einem Patienten herausoperiert werden.

 

Die Lichtquelle hat zunächst die Funktion, die Schatten der Spieler auf die Leinwand zu werfen. Es eignen sich neben Diaprojektoren Kerzenlicht, Stehlampen und vor allem ein Overheadprojektor. Mit einem Dimmer (hohe Wattzahl des OHP und Halogenlichttauglichkeit beachten) läßt sich das Licht weich ein- und ausblenden. Installiert man mehrere, auch farbige Lichtquellen, so verdoppeln, verschieben, vermischen sich die Schatten oder verschwinden zum Teil. Durch die Bewegung der Spieler oder der Lichtquelle ergibt sich ein reizvolles Formen- und Farbenspiel.

 

Eine zweite Spielfläche eröffnet sich mit den Spielmöglichkeiten auf der Fläche des OHP. Es lassen sich mit Hilfe von farbigen oder bemalten Folien, einer Glasschüssel mit Wasser, textile Materialien wie Netze, Spitzen usw., zauberhafte Bühnenbilder auf die Leinwand projizieren. Eine nur 5 cm große Palme z.B. auf der Projektionsfläche liegend wirkt auf der Leinwand riesig. Kleine Requisiten können auch auf dem OHP bewegt werden, beispielsweise ein aus Pappe geschnittenes Schiff, welches an einem dünnen Faden oder Draht über die Glasfläche gezogen wird.

 

Die pädagogischen Möglichkeiten liegen darin, daß die Spieler sich nicht offen produzieren müssen, sondern "aus dem Versteck" agieren könnnen, daß durch Verfremdung, Übertreibung, Tricks usw. Distanz zur eigenen Bewegung hergestellt wird, daß aus dieser Distanz unbefangen mit den eigenen Bewegungsmöglichkeiten experimentiert und gleichzeitig die Bewegung beobachtet und korrigiert werden kann, daß so vielfältige neue, ungewohnte Bewegungs- und Spielererfahrungen vermittelt werden können.

 

7.3.2. Möglichkeiten des Einstiegs in das Schattenspiel

Lockerungs- und Aufwärmspiele

 

Zum Kennenlernen des Mediums Schattenspiel, aber auch als Einstieg in Arbeitsphasen eignen sich Lockerungs- und Aufwärmspiele. In einem Rundlauf um das Schattentuch, bei dem sich ein ständiger Wechsel zwischen Akteuren und Zuschauern ergibt, werden verschiedene Gangarten (eilig, müde, betrunken, auf glitschigem Boden usw.) ausprobiert oder Berufe, Tätigkeiten, Tiere, Gefühle pantomimisch dargestellt. Eine Musikcollage bestehend aus unterschiedlichsten Arten von Musik kann  die Gruppe zu vielfältigen Fortbewegungsmöglichkeiten anregen. Partnerspiele wie "Spiegelbild" ( Partner 1 vor, Partner 2 hinter dem Tuch, 1 gibt die Bewegung vor,  2 macht sie nach) oder das Nachstellen von Gruppenskulpturen (eine Gruppe vor dem Tuch stellt die als Schatten erscheinende Skulptur hinter dem Tuch nach, Kontrolle durch Hochheben des Tuches) dienen der Kontaktaufnahme  sowie der genauen Beobachtung und Korrektur. Bereits bei diesen Spielen lassen sich  erste Erfahrungen mit  Besonderheiten von Schattenwirkungen sammeln, vor allem diese: Weit ausgreifende, deutliche und langsame Bewegungen wirken  klarer als normale Alltagsbewegungen. Die Größe des Schattens läßt sich durch Nähe und Ferne zur Lichtquelle verändern.

 

 

 

 

Veränderung  der Körperform

 

Da als Schatten nur die Konturen eines Körpers sichtbar werden, ist es besonders reizvoll, mit diesem Phänomen zu spielen, also die Körperform zu verändern und zu verfremden. Es eignen sich Umhänge, ausgestopfte Buckel und Bäuche, angeklebte Nasen, Profilmasken aus Pappe, Pappstreifen zum Verlängern der Fingernägel, Kopfbedeckungen aus Tüchern, Plastikfolie, Hüte. Als Requisiten  bieten sich Stöcke, Schirme, Taschen, Staubwedel usw. an. Die Veränderung des Körpers kann so weit gehen, daß die Person nicht mehr zu erkennen ist. Bei der Arbeit in Gruppen lassen sich spannende Ratespiele (who is who ?) entwickeln. Erfindet jede " Gestalt"  eine passende Gangart, vielleicht ergänzt durch eine Bewegungsbegleitung mit Instrumenten oder Stimme, so kann  daraus eine kuriose bis groteske Modenschau entstehen. Bei dieser Verkleidungsaktion haben Schüler die Möglichkeit, Veränderbarkeit zu erleben, originelle Ideen zu entwickeln und ihr Bewegungsrepertoire zu erweitern, sowie Klang und Bewegung in Beziehung zu setzen.

 

Musik als Vorlage für die Darstellung

 

Soll eine ausgewählte Musik in Bewegung umgesetzt oder dargestellt werden, so gibt es viele Möglichkeiten, Form, Charakter, Text oder andere Gegebenheiten zu gestalten. Dazu ist es nicht notwendig, immer den ganzen Körper einzusetzen. Hände  z.B. sind eine Entdeckungsreise im Hinblick auf Bewegungsvielfalt und Schattenwirksamkeit wert. Man kann sie als kleine Gruppe direkt auf der Glasfläche (OHP) tanzen lassen oder von oben, unten und den Seiten in den Lichtkegel führen. Eine weitere Möglichkeit ist, sich auf den Boden vor das Schattentuch zu legen und die Hände von da aus zu bewegen. So läßt sich die gesamte beleuchtete Tuchfläche ausnutzen. Gut gegliederte Musik eignet sich zur Umsetzung in Handbewegungen besonders (z.B. Kontratänze wie „Sellengers Round“, die Ouvertüre aus der Wassermusik von G.F. Händel, die Polka "Unter Donner und Blitz" von Johann Strauß jun., der Popsong "Hands up" von der Gruppe Ottowan und vieles mehr).

 

 Sehr reizvoll ist auch die Arbeit mit transparenten Materialien wie Plastkfolie, bemalten Folien, die dann im Lichtkegel oder  auf der Projektorfläche bewegt werden. Hier wird nicht nur mit musikalischen sondern auch farblichen Tönen gespielt.

 

Spiele mit Farbschatten

 

In der Arbeit mitSchülern und Studenten haben sich neben den schon genannten Lockerungs- und Aufwärmspielen als  Einstieg Spiele mit Lichteffekten bewährt. Eine besondere Faszination übt mehrfarbiges Licht aus, das  von zwei oder drei Projektoren ausgestrahlt, Überschneidungen bildet. Aufgelegt werden  jeweils Bühnenscheinwerferfolien  oder farbige Overheadfolien in drei verschiedenen Farben. Die Körperschatten verdoppeln und überlagern sich mit dem Effekt, daß selbst einfache, stereotype Bewegungen einen neuen Reiz erhalten - dazu Discomusik und die Show ist perfekt. Viel Spaß machen auch  improvisierte Playbackdarstellungen zur Musik. Es wird direkt auf wechselnde Gegebenheiten wie  z.B. Vorsänger, Backgroundchor, Instrumentalgruppe reagiert. Videoaufnahmen dienen der Dokumentation und Rückmeldung für die Schüler und tragen zur Erhöhung der Motivation bei.

 

7.3.3   Projekte mit Schülern

 

Im folgenden sollen einige Projekte dargestellt werden, die  im Rahmen von Praxisseminaren mit verhaltensauffälligen, bzw. mit Schülern mit geistigen Behinderungen durchgeführt wurden. Beteiligt waren jeweils eine Studentengruppe  und die Autorin. Es handelte sich überwiegend um gespielte Lieder oder Hits, in einem Fall um ein Musical. Die Musikkultur der Kinder und  Jugendlichen wurde besonders berücksichtigt. Da sie im Alltag überwiegend medial vermittelt wird, sollten die Schüler die Möglichkeit erhalten, selbst gestaltend damit umzugehen und dabei vielfältige  musikalische Erfahrungen zu sammeln. Musikwünsche der Schüler eigneten sich nicht immer für ein Schattenspiel, deshalb war es notwendig, eine Vorauswahl geeigneter Musiktitel zu treffen. Kriterien für die Auswahl waren, sowohl von der Musik als auch vom Inhalt her gesehen, ein klarer Aufbau und  Bildhaftigkeit.

Die durchgeführten Projekte waren:

 

- Anne Kaffekanne ( F.Vahle)

- Hier kommt Kurt ( F. Zander)

- Küssen verboten (Die Prinzen)

- "Tabaluga" oder "Die Reise zur Vernunft" (P. Maffay)

- Suleimann ( Die Prinzen )

 

Das Lied "Anne Kaffeekanne" erzählt von einem emanzipierten Mädchen auf der Reise durch mehrere Länder. Dort begegnet es Eskimos, einem Löwen und im Schwarzwald einem Oberförster - sie alle  wollen Anne für sich gewinnen und   in "frauentypische" Rollen stecken. Anne fliegt nach jeder Begegnung auf ihrem Besenstiel davon, bis sie ausgerechnet in Wanne-Eickel auf den kleinen Hansi Heinemann trifft, der zu ihr paßt. Das Wegfliegen (im Refrain) verdeutlichte die Spielerin, indem sie sich während der letzten Takte auf die Lichtquelle zu bewegte. Das Bild verschwamm so in den Augen der Zuschauer. Der Oberförster wurde in seiner spießigen Rolle noch verstärkt durch einen übergroßen Spitzbart aus Papier, der an die Backe geklebt war sowie durch einen übergroßen Jägerhut (er wünscht sich von Anne, daß sie ihm die Pantoffeln für die Tagesschau bringen möge). Wir erarbeiteten mit den Schülern verschiedene Möglichkeiten, Ablehnung auszudrücken (ausgestreckte Arme, Handflächen nach vorn, Vogel zeigen usw.).

 

"Hier kommt Kurt" ist ein ´rockiger´ Titel, bei dem in der Gestalt des Kurt "Machogehabe" so stark überzeichnet wird, daß Jugendliche die Möglichkeit zur Distanz gewinnen können. Wir verstärkten die Überzeichnung durch einen Rollentausch, d.h. Kurt, der "coole" wurde von einem Mädchen gespielt. In Refrain und Zwischenspiel agierte jeweils eine Tanz- bzw. Instrumentalgruppe (pantomimisch). Die besondere Aufgabe bestand darin, „Machogehabe“ zu analysieren und unter Zuhilfenahme von Requisiten (Zigarette, Bierflasche, Lederjacke, Hut) gestisch umzusetzen.

 

In "Küssen verboten" geht es um einen Jungen, der eine unüberwindliche Abneigung gegen das Küssen hat.Er muß sich im Verlauf des Liedes  gegen die Zuwendung verschiedenster Personen wehren. Beim Spiel kam es darauf an, Gesten der Annäherung (Anschmusen, Geschenke präsentieren, Festhalten usw.), aber auch der Ablehnung zu erarbeiten und  den Refrain "Küssen Verboten" zu gestalten. In unserem Fall führte ein Rollstuhlfahrer, der von unsichtbaren Helfern an eben solchen Seilen über die Bühne gezogen wurde, ein Verbotsschild mit einem durchgestrichenen Mund mit sich, was ihm  sichtbares Vergnügen bereitete.

 

Als längerfristiges Projekt wurde das Musical "Tabaluga oder Die Reise zur Vernunft" mit Jugendlichen mit geistiger Behinderung als Schattentheater gespielt. Die Gruppe setzte sich zusammen aus sechs Schülerinnen und Schülern, von denen sich zwei frei und ungehemmt bewegen konnten, drei mit großen Ängsten, die sehr viel Aufmunterung benötigten und teilweise bei der Hand genommen werden wollten sowie einem schwerbehinderten Schüler im Rollstuhl, der nur Kopf und Arme bewegen  und nicht sprechen konnte. In "Tabaluga" geht es um einen jungen Drachen, der von seinem Vater in die Welt geschickt wird, um erwachsen und vernünftig zu werden. Schüler in diesem Alter können sich mit Tabaluga identifizieren. Ausgehend von den Fähigkeiten und der Motivation der Gruppe wurde das Gesamtwerk auf sechs Szenen gekürzt, wobei auf einen Wechsel zwischen Ruhe und Aktion geachtet wurde. Die Abfolge war:

Tabaluga als junger Drache

Der Mond

Die Ameisen

Der Baum des Lebens

Die Delphine

Die Meeresschildkröte Nessaja

Der Text wurde vereinfacht und von einem Erwachsenen gesprochen, dann mit den teilweise gekürzten Songs auf ein Tonband aufgenommen, zu diesem spielten die Schüler. Die ruhigen Szenen wurden von den Betreuern mit Lichttechnik gestaltet. Sie bewegten den Mond unter Einsatz von Farbfolien und einer Taschenlampe als Lichtpunkt über die Leinwand. Der Baum des Lebens war auf vier  übereinandergelegten Folien abgebildet, jahreszeitlich jeweils verschieden gestaltet. Während die Musik ablief, wurden diese auf dem OHP langsam umgeblättert. Die Schülergruppe spielte die Ameisen, Strophe: im Kreis gehen, Refrain: am Platz Arbeitsbewegungen mit  Werkzeugen aus Pappe (große Hämmer, Scheren , Besen usw.) ausführen. Durch Schwingen von Gymnastikbändern im Rhythmus der Musik wurde die Lebensfreude der Delphineverdeutlicht. Die alte Meeresschildkröte Nessaja spielte der Rollstuhlfahrer. Eine "richtige" Rolle zu spielen, hatte für diesen Schüler eine große Bedeutung. Er selbst brauchte sich nicht zu bewegen, der angesprochene Tabaluga verdeutlichte durch Gesten den Inhalt der Szene. Die Idee, die hinter unseren didaktischen und methodischen Entscheidungen stand, war einerseits, die Schüler zu aktivieren, dazu halfen die genannten Geräte, an denen sie sich physisch und psychisch festhalten konnten, andererseits ihnen Raum und Ruhe zum Betrachten und Erholen zu geben. Auch auf die Zuschauer übte der Wechsel zwischen bewegten Bildern und sich bewegenden Personen eine besonderen Reiz aus. Dieses Projekt ist ein Beispiel dafür, wie mit einfachsten Mitteln eine ästhetisch ansprechende Darbietung gelingen kann, nicht zuletzt dadurch, daß Betreuer durch ihre Mithilfe Schülerleistungen aufwerten.

 

In der Geschichte von "Suleimann" (Die Prinzen kamen 1990 als erste „Ostgruppe“ in die Hitparaden) wird hintergründig die Überflutung der neuen Bundesländer mit heißersehnten Konsum- und Prestigegütern ironisiert und damit die Werte der Konsumgesellschaft infrage gestellt (der Häuptling Suleimann schickt in der letzten Strophe das Schiff mit den ihm angebotenen Videos, PKW, blauen "Nietenhosen" usw. mit einem "Nu haue du ab mit dein' Gelumpe" weg - und das in reinstem Sächsisch). Nachfolgend wird der Text in seiner "Rohform" wiedergegeben, die im Original von einem indianisch klingenden "Uga Wagaya Suleimana Ta Hapatan Kaya Passada" im Refrain und "Heyakahoa Suleimann" in den Strophen ausgeschmückt ist.

 

 

   Suleimann

   

   Auf einer kleinen Insel im fernen Suleiland,

   da lag der Suleihäuptling den ganzen Tag am Strand.

 

   Am Abend kam ein Schiff, das seinen Anker warf,

   an Bord hatte es Waren für den täglichen Bedarf.

 

   Filterzigaretten, gebrauchte PKW,

   blaue Nietenhosen und Videofilme.

 

   Suleimann ist weise, immer gut gelaunt,

   schau nur mal wie Suleimann über alles staunt:

   "Oh gucke mal, oh gucke, oh sieht das schön aus!"

 

   Nicht, daß einer denkt, hier gibt's was geschenkt.

   Alles auf der Welt - kostet Geld!

 

   Doch schon am nächsten Morgen, beim ersten Tageslicht

   sieht Suleimann die Ware an und sagt : "Ich mag es nicht!"

 

   Das Schiff setzt seine Segel, verläßt das Suleiland,

   der Suleihäuptling freut sich und legt sich an den Strand.

 

   Suleimann ist glücklich, ja er freut sich sehr

   und dann ruft der Suleimann dem Dampfer hinterher :

 

   "Nu haue du ab, nu haue, nu haue du ab,

    mit dein‘ Glumpe!“

 

 

 

Wir entwickelten daraus mit verhaltensauffälligen und psychisch kranken Jugendlichen eine Art gespielten Videoclip.

 

Die unterschiedlichen Schwierigkeiten der Schüler ließen sich zum damaligen Zeitpunkt beschreiben als autistisches Verhalten, gestörtes Körperbild, Versagensängste, Antriebslosigkeit, ständige Anspannung durch selbst gesetzten Leistungsdruck, unrealistische Selbsteinschätzung. Am Bewegungsverhalten fielen Stereotypien, eng am Körper geführte Arme und hochgezogene Schultern, gesenkter Kopf, zwanghafte Bewegungen auf.

 

Der Videoclip zu „Suleimann“

 

Die Entstehung des Videoclips soll nun etwas ausführlicher dargestellt werden.

Nachdem die Schüler aus einer Auswahl von Titeln "Suleimann" gewählt hatten und den Inhalt, auch die ironisierende Ebene diskutiert hatten, machten sie zur Inszenierung folgende Vorschläge:

 

- Den Refrain kann eine Gruppe (das Stammesvolk) tänzerisch gestalten. 

- Der Häuptling soll dick sein.

- Ein Schiff soll ins Bild und zum Schluß wieder hinausgeschoben werden.                                  

- Die Insel soll an einer Palme zu erkennen sein.

- Jemand muß die Technik am OHP übernehmen.

- Es müssen Requisiten besorgt werden (Jeans, Zigarettenschachteln, Geldscheine, Videokassette, aus Pappe ausgeschnittene Gegenstände wie Auto, Palme, Anker für das Schiff, Kopfschmuck und Sitzkissen für den Häuptling usw.)

 

Die nächste Überlegung galt dem Problem, wie man die im Text angesprochenen Gegebenheiten - Schiff, Jeans, Filterzigaretten, Autos, Videofilme -  ins Bild bringen und wie man "es kostet Geld" deutlich machen könne. Die Schüler erkannten die Notwendigkeit, sich auf wenige wichtige Bilder und Aktionen zu beschränken, um sich an den schnellen Ablauf  von Musik und Text anzupassen. Jeans ins Bild zu halten oder auf eine Leine zu klammern, bewährte sich nicht. Die Zigarettenschachtel in Originalgröße wirkte als Schatten viel zu klein, die Videokassette war als solche nicht zu erkennen, ebenso wenig die Geldscheine. Man einigte sich darauf, einheitlich Pappsilhouetten zu verwenden, dabei die Zigarettenschachtel doppelt so groß auszuschneiden, statt Videokassette die Silhouette einer Videokamera zu verwenden sowie zum Begriff Geld  Währungssymbole aus Pappe (Dollar, DM, Pfund) herzustellen. Die Tanzgruppe sollte am Anfang und am Ende auftauchen. Beim ersten Versuch, einzelne Szenen zu spielen, hatten die Tänzer Schwierigkeiten zu improvisieren und wünschten sich eine feste Bewegungsfolge. Der Häuptling hatte Mühe, sich nicht mit dem Schatten der Palme, die vom OHP als Kulisse auf das Schattentuch projiziert wurde, zu überschneiden. Der Matrose mußte überlegen, wann er das Schiff (eine präparierte Kiste auf Rollen mit Kleidung und dem Rahmen eines Fernsehers aus Styropor) hinein und wieder hinaus schob, Anker warf usw. Die Schülerin am Projektor probierte das Ein- und Ausblenden des Lichtes an den richtigen Stellen.

In der Rolle als Häuptling setzte sich die Spielerin zunächst mit Gesten auseinander, die in Anlehnung an den Text Wohlbefinden, Staunen, Ablehnung und Glück ausdrückten. Es wurden mehrere Möglichkeiten erarbeitet und  erkannt, daß übertriebene große Bewegungen eher publikumswirksam waren als alltägliche. Die drei Tänzer einigten sich auf eine festgelegte Bewegungsfolge und mußten üben, synchron zu tanzen. Der Matrose probte das genaue Timing, wann das Schiff ins Bild zu schieben und der Anker zu werfen war. Er versuchte sich mit Gesten der Begrüßung und der Darbietung von Waren gegenüber dem Häuptling. Vier Jungen und Mädchen lagen für die Zuschauer unsichtbar auf dem Boden und hielten an entsprechender Stelle die vorbereiteten Pappsilhouetten hoch (um sie unsichtbar zu machen, legte man einen Pappstreifen auf den Projektor, der den unteren Teil des Schattentuches abblendete). Sie zeigten sich körperlich überhaupt nicht, mußten dafür aber exakt auf Stichwort reagieren und sich nach ihrem Auftritt unauffällig von der Spielfläche rollen. Ein Mädchen sorgte für das Ein- und Ausblenden des Lichtes, sowie die Führung der kleinen Papprequisiten auf dem Projektor - sie zog an verabredeter Stelle ein kleines Schiff an einem dünnen Draht über die Glasfläche des Projektors.

 

Die größte Schwierigkeit für alle Rollen war, sich dem schnellen Ablauf der Musik anzupassen sowie den richtigen Abstand zum Schattentuch und die Profilstellung einzuhalten. Die Eigengesetzlichkeiten des Mediums erforderten von den Schülern ein hohes Maß an Beobachtungsfähigkeit. Von Vorteil war, daß einige Studentinnen, die das Projekt betreuten, sich mit den Schülern (für die Zuschauer unsichtbar) hinter der Bühne aufhielten und kleine Hilfestellungen leisteten. Die Betreuung war auch bei den Aufführungen notwendig. Bezogen auf die geschilderten Schwierigkeiten der Schüler ließen sich am Ende des Projekts viele Fortschritte feststellen. Dazu einige Beispiele:

Für Günter (Namen geändert), einen Jungen mit autistischen Verhaltensweisen, war es ein Fortschritt, sich überhaupt auf Verbindlichkeiten einzulassen,  eine verantwortungsvolle Rolle durchzuhalten (als Matrose das Schiff an der richtigen Stelle zu bedienen und dem Häuptling mit wohl überlegter Gestik verschiedene Waren  anzubieten).

Die Schülerinnen und Schüler der Tanzgruppe - alle drei hatten zunächst Hemmungen, sich frei und tänzerisch zu bewegen - haben gelernt, sich mit weit ausgreifenden Bewegungen zu präsentieren und im Zusammenhang damit Bewegung lustvoll zu erleben.

Die Technikerinnen und Requisiteure wurden durch ihre Leistung ermutigt, das nächste Mal in eine für die Zuschauer sichtbare Rolle zu schlüpfen.

Ines, der Häuptling, die sich am Anfang gar nichts zugetraut hatte, entdeckte mit der Zeit verschiedene Darstellungsmöglichkeiten, die sie weiterentwickelte. Sie erbrachte bei den Aufführungen Höchstleistungen.

Fritz, der unter ständigen Versagensängsten litt, konnte die Erfahrung machen, einer Anforderung gewachsen zu sein. Eine überschaubare klare Aufgabenstellung (die festgelegte Bewegungsfolge beim Tanz) bewirkte bei ihm die Lösung von Spannung und damit freiere Bewegungen.

 

7.3.4 Fazit

 

Die Ausführungen waren von der Grundannahme ausgegangen, daß durch die ästhetischen Medien Schattenspiel und Musik die Bewegungs-, Ausdrucks-, Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeiten der Schüler besonders gefördert werden können. An den dargestellten Beispielen ist folgendes deutlich geworden:

Die Schüler machten intensive Bewegungserfahrungen, erweiterten ihr Bewegungsrepertoire und erbrachten Koordinationsleistungen, was sowohl die die eigene  Bewegung als auch Zusammenspiel zwischen Musik und Bewegung anging. Durch aktive Auseinandersetzung mit den Aussagemöglichkeiten von Gesten und Gebärden erlebten und akzeptierten sie ihre Körpersprache als eigenen Ausdruck. Sie nahmen die eigene und die Bewegung anderer, sowie die ästhetische Wirkung des Mediums Schattenspiel als auch die des eigenen Körpers (Verkleidung, Veränderung, Bewegung im Tanz) wahr. Die differenzierte Wahrnehmung, die während einer Produktion gefordert war, führte zum Erkennen von Veränderungsmöglichkeiten und dadurch zum  Üben und Annehmen von Kritik. Sie kommunizierten, indem sie sich über Bewegung mitteilten, sich auf Partner und Gruppe einließen, Verantwortung für das Gelingen übernahmen, Beziehungen aufbauten. Es waren vor allem die Faszination des Mediums und des Spiels, sowie die hohe Affinität zu Musik und musikalischer Betätigung (hier die Verknüpfung von Musik und Bewegung) die Gründe dafür, daß Schüler am Schattenspiel mit Musik so viel Spaß hatten. Das Lernen kam dabei nicht zu kurz, denn sie erfuhren ästhetische Gesetzmäßigkeiten (Eigengesetzlichkeiten von Licht und Schatten, Wirkung des Körpers, musikalische Gegebenheiten), stellten aktiv ästhetische Wirkungen her und durchschauten sie damit, waren affektiv beteiligt und machten vielfältige soziale Erfahrungen -  das sind Prozesse, die durch Ästhetische Praxis in Gang gesetzt und beabsichtigt werden. Förderung von Ausdruck, Wahrnehmung, Bewegung und Kommunikation bedeutet, Fähigkeiten zu entwickeln, die nicht nur im Spiel, sondern auch für das Zurechtfinden im Alltag unerläßlich sind. Gerade bei Schülern mit Schwierigkeiten verdient dieser Bereich eine besondere Gewichtung.

Für Lehrer, die all diese Erfahrungen vermitteln wollen, stellt sich das Problem, daß sie die Kompetenz für den Umgang mit ästhetisch/künstlerischen Medien nur durch intensive Eigenerfahrung erwerben können.

 

 

8. Literatur

 

Amrhein, F. (1985) Die musikalische Realität des Sonderschülers. Situation und Perspektiven des Musikunterichts an der Schule für Lerbehinderte. Regensburg: Bosse

Ders. (1993). Bewegungs-, Ausdrucks-,Wahrnehmungs- und Kommunikationsförderung mit Musik.Zeitschrift für Heilpädagogik, 44, 570-589

Ders (1996). Sprachförderung durch Musik. In Schütz,V.  (Hg.), Musikunterricht heute ( S.39-49).Oldershausen:Institut für Didaktik populärer Musik

Ders.(1997). Sensomotorisches und musikalisches Lernen. In Schütz, V./ Bähr, J. (Hg.) Musikunterricht  heute 2. Oldershausen: Institut für Didaktik populärer Musik

Ayres, J. (1984). Bausteine der kindlichen Entwicklung. Berlin, Heidelberg: Springer

Dunbar, R. (1996). Klatsch und Tratsch – Wie der Mensch zur Sprache fand. München: Bertelsmann

Feldenkrais, M. (1978). Bewußtheit durch Bewegung - Der aufrechte Gang. Frankfurt: suhrkamp

Ders. (1992). Das starke Selbst. Frankfurt: suhrkamp

Held, J (1994). Die Feldenkrais-Methode. In Landesarbeitsgemeinschaft Musik Nordrhein-Westfalen e.V. (Hg.), Musikmachen spannend, aber nicht verspannt (S.146-157). Remscheid: LAG- Musik-Verlag

                       Hentig, H.v. (1985). Ergötzen, Belehren, Befreien - Schriften zur ästhetischen Erziehung. Frankfurt: Hauser

Hess. Kultusministerium (Hg.) (1996). Rahmenplan Ästhetische Bildung: MUSIK - Schule für Lernhilfe. Frankfurt: Diesterweg

Hess. Institut für Lehrerfortbildung , Fuldatal (Hg.):

  Handreichungen Sonderschule

   - Heft 3 (1979) Lernfeld Singen

   - Hefte 27/28 (1984) Musik in der Umwelt

   - Heft 36 (1986) Musizieren, Musikhören, Tanzen

   - Hefte 42/43 (1990) Klassik

  Fachbereich Musik (1996) Bluesspiele (Koch, H.)

Kerbs, D. (1972). Zum Begriff der ästhetischen Erziehung. Musik und Bildung, 13,  514-520

Klafki, W. (1985/ 1991). Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim: Beltz

Probst, W. (1991). Instrumentalspiel mit Behinderten. Mainz: Schott

Ribke, J. (1995). Elementare Musikpädagogik. Regensburg: Con Brio

Roscher, W. (1994). Musik, Kunst, Kultur als Abenteuer. Kassel: Bärenreiter

Thompson, R.F. (1990). Das Gehirn - von der Nervenzelle zur Verhaltenssteuerung. Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft

Wieser, W. (1979). Über die Einheit von Wahrnehmung und Verhalten in der technischen Welt. In Wichmann, H.(Hg.), Der Mensch ohne Hand  (S.45-60), München: dtv

 

Weiterführende Literatur zur Praxis des Schattenspiels:

 

Bieker, M. (1995). Schattenspiel. Ein Beispiel Ästhetischer Praxis in der Förderung von schwierigen Kindern und Jugendlichen. Zeitschrift für Heilpädagogik, 46, 288-293

Burkhardt, H. (1987). Musisch-Ästhetische Erziehung in der Grundschule: Studieneinheit Figurentheater und Schattenspiel. Tübingen: Deutsches Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen

Canacakis, J. (1986). Wir spielen mit unseren Schatten. Reinbeck: Rowohlt

Haehnel, G./ Söll, F.  Schattenleuchten - Wege zum Menschenschattenspiel (35 Karten).

Bremen: Pädagogik-Kooperative e.V.

Jahnz, R. Farbschattentheater im Musikunterricht. AFS-Unterrichtshilfen Nr. 212/213. Hamburg: Arbeitskreis für Schulmusik

Kienhorst, E. M. (1976). Improvisatorisches Farbschattentheater. In Roscher, W., Polyästhetische Erziehung ( S.163-172). Köln: M.Du Mont Schauberg

Lenzen, K-D. (1990). Theater macht Schule. Frankfurt: Arbeitskreis Grundschule e.V.

Meyer,W. /Seidel,G. (1975). Szene, Spielen und Darstellen 1 und 2. Hamburg:  Erziehung und Wissenschaft

Raschke, H. (1981). Bewegung und Tanz mit dem Schattenbild. Sportpädagogik, 5, 34-39

Reinhard, F. (1984). Menschen- und Figurenschattenspiele. München: Don Bosco

 

 

Franz Amrhein, Prof. Dr.phil., Jahrgang 1935. Musik- und Pädagogikstudium sowie Tätigkeit als Musikerzieher und Kirchenmusiker in München. Von 1970-1987 als OStR. i.H. am Institut für Heil- und Sonderpädagogik in Marburg für die Bereiche Ästhetische Erziehung/Musikerziehung, von 1977-1987 Leiter der Rahmenlehrplangruppe Musik an Sonderschulen beim Hessischen Kultusminister. Seit 1987 Professor für Musikpädagogik an der Hochschule für Musik und Theater Hannover.

 

Margret Bieker, Jahrgang 1941. Studium für das Lehramt an Grund-, Haupt-, Real- und Sonderschulen in Gießen, Berlin und Marburg. Von 1964-1988 Lehrerin in Grund-, Haupt- und Sonderschulen. Berufsbegleitende Weiterbildung in Musik- Tanz- und Bewegungserziehung am Orff-Institut Salzburg. Von 1979-1995 Mitglied der Rahmenlehrplangruppe Musik an Sonderschulen beim Hessischen Kultusminister. Seit 1988 als OStRn.i.H. am Institut für Heil- und Sonderpädagogik in Marburg für den Bereich Ästhetische Erziehung.

 

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