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In: Bäßler, H. (Hg.): Brücken – Musikunterricht im geeinten Europa. Kongressbericht 23. Bundesschulmusikwoche Koblenz 2000. Schott Mainz 2001

Franz Amrhein

Eine Brücke für die Schwachen 

Musikunterricht an Sonderschulen

Wenn die Rede vom Musikunterricht als einer Brücke nicht nur eine schöne Metapher sein soll, muß man nach den Funktionen einer Brücke fragen und untersuchen,  ob der Musikunterricht in der Lage ist, sie zu erfüllen. Eine Brücke stellt Verbindung her, führt zu einem Ziel und überwindet Hindernisse. Die Verbindung, die der Musikunterricht herstellen kann, ist die zwischen dem Schüler [1] und der Musik sowie die Verbindung des Schülers zu sich selbst und zu anderen. Das Ziel ist die allseitige Förderung des Schülers und die Hindernisse sind seine Schwierigkeiten und Behinderungen.

Die Schwachen sind zunächst die Schüler, die zu ihrer besonderen Förderung eine Sonderschule besuchen müssen, weil sie die Anforderungen der Regelschule nicht erfüllen, (bzw. weil die Regelschule ihre Bedürfnisse nicht erfüllt). Eine Brücke brauchen aber alle Schüler, die der Musik gegenüber „schwach“ sind. Diese Schwachen sind nicht nur die Schüler der Sonderschulen, sondern fast alle Schüler, die außerhalb der Schule keine musikalische Förderung erfahren. Der Weg dieser Schüler zur Musik ist deshalb erschwert, weil der schulische Musikunterricht auf weite Strecken ausfällt ist und weil der stattfindende Unterricht ihre Bedürfnisse häufig zu wenig berücksichtigt. Im Folgenden sollen zunächst die Situation des Musikunterrichts an Sonderschulen skizziert und dann seine Brückenfunktionen erläutert werden.

A. Die Situation des Musikunterrichts an Sonderschulen

Ca. 5% aller Schülerinnen und Schüler besuchen eine Sonderschule, d. h. eine Schule für Lernhilfe, Geistigbehinderte, Sprachbehinderte, Verhaltensauffällige, Körperbehinderte, Kranke, Seh- und Hörbehinderte. Ein kleiner Teil dieser Schüler wird in der Regelschule in Integrationsklassen sonderpädagogisch betreut. Das häufig erklärte Ziel, alle Menschen mit einer Behinderung in die reguläre Schule und damit in die Gesellschaft zu integrieren, könnte nur durch einen beträchtlich erhöhten Aufwand bei der Ausstattung der Schulen mit Lehrern, Räumlichkeiten, Materialien usw. erreicht werden und fällt in der Regel den Sparzwängen zum Opfer.

Vor 10 Jahren hatte der vds das Forschungsprojekt Musik an Sonderschulen durchgeführt, das die Lage des Musikunterrichts an Sonderschulen erkunden und Vorschläge zur Verbesserung unterbreiten sollte. Befragungen von Kultus- und Schulbehörden, Lehrern und Schülern ergaben gravierende Defizite:

·    Musikunterricht an Sonderschulen fällt bis zu 50% aus.

·    Es gibt nur an wenigen musikpädagogischen Instituten ein sonderschulspezifisches Studium - so wie man z.B. Musik für die Grundschule oder für das gymnasiale Lehramt studieren kann, erst recht nicht die Möglichkeit, das Studium nach den o.g. Behinderungsarten zu spezifizieren.

·    Es gibt an Sonderschulen zu wenig Musiklehrer, über 2/3 des stattfindenden Musikunterrichts wird fachfremd erteilt.

·    Auch in der zweiten Ausbildungsphase und der Lehrerfortbildung der meisten Länder gibt es keine oder zu wenig sonderschulspezifische musikalische Angebote.

·    Sonderschulen sind für den Musikunterricht häufig unzureichend ausgestattet.

·    Die meisten Lehrpläne und Richtlinien sind vor mehr als 20 Jahren entstanden und entsprechen in der Regel nicht den Erfordernissen.

Zur Verbesserung der Situation wurden eine gezieltere Ausbildung der Lehrer in der ersten und zweiten Phase, vermehrte Angebote in Lehrerfort- und -weiterbildung, entsprechende Ausstattung der Schulen und angemessene Lehrpläne gefordert. Zwei weitere Forderungen bezogen sich auf die Schaffung einer länderübergreifenden Institution und die Einrichtung von Modellversuchen. Eine Verbesserung ist jedoch nicht eingetreten.

Die Ergebnisse des Forschungsprojekts decken sich mit dem Bericht der Bund-Länderkommission (1977), mit eigenen Untersuchungen (Amrhein 1983) und neueren Erhebungen (Merkt 1999). In dem aktuellen Bericht der KMK Zur Situation des Unterrichts im Fach Musik an den allgemeinbildenden Schulen (1998) werden in den Berichten der meisten Länder Sonderschulen nicht einmal erwähnt. Der einzige Satz, mit dem im Hamburger Bericht Sonderschulen Erwähnung finden, ist kennzeichnend: Für die Sonderschulen gelten modifizierte Regelungen; hier steht die praktische 'musische' Tätigkeit im Mittelpunkt. (S.111) Dies bedeutet eine doppelte Nulllösung, da die Effektivität musischer Tätigkeit fraglich ist, aber auch die gar nicht stattfindet. Unter den 16 Bundesländern bildet einzig das Land Hessen eine Ausnahme: In den letzten 20 Jahren wurden von einer Arbeitsgruppe ein detaillierter Rahmenlehrplan (1979), seine revidierte Fassung (1996) [2] sowie 8 Handreichungen erarbeitet und zahlreiche zentrale, regionale und schulinterne Lehrerfortbildungen durchgeführt. Außer dem hessischen wird nur der bayrische Lehrplan zur individuellen Lernförderung (1991) in Ansätzen den weiter unten genannten Kriterien gerecht. Ein weiteres positives Beispiel ist das Modell Instrumentalspiel mit Behinderten in der Zusammenarbeit von Musikschulen und Sonderschulen (Probst 1991/99)

      Auch wenn es einzelne Sonderschulen mit hervorragendem Musikunterricht gibt, ist die Situation insgesamt schlimm. Hauptgrund ist der Mangel an Musiklehrern, der auch für den Unterrichtsausfall und die mangelhafte Ausstattung verantwortlich ist. Besonders hinderlich ist das Fehlen einer schlüssigen inhaltlichen Konzeption. In Lehrplänen und im Bewußtsein der Lehrer sind einseitige Vorstellungen über Sach- und Schülerorientierung sowie über das „Musische“ weit verbreitet. Die Sachorientierung dreht sich häufig um kognitive Aspekte (z.B. musikalische Begriffe, Daten, Notenschrift) und vernachlässigt die emotionale Beziehung der Schüler zur Musik [3] . Ebenso schädlich ist eine sich als Therapie verstehende Schülerorientierung. Die Schüler sind nicht krank und der Unterricht ist in der Regel keine therapeutische Situation. Ein Musiktherapeut muß nicht nur über musikalische, sondern auch über medizinische, psychologische und diagnostische Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen und arbeitet in der Regel mit Medizinern und Psychologen im Team. All dies ist im Musikunterricht nicht gegeben. Die Vorstellung vom Musikunterricht als musischer Tätigkeit schließlich geht von einer verschwommenen antirationalen Ganzheit der Person aus, ist mehr an Vergangenheit als an Gegenwart und Zukunft orientiert und übersieht leicht die spezifischen Möglichkeiten der Musik sowie den Zusammenhang zwischen Musik und der Lebenswelt der Schüler. Die Idee des Musischen hat wesentlich dazu beigetragen, daß aus dem Musikunterricht ein unverbindliches Randfach geworden ist.

Ein Konzept, das für die Schüler eine Brücke sein soll, muß sich von nebulösen musischen sowie von unrealistischen fachlichen und therapeutischen Vorstellungen distanzieren. Basis dieses Konzepts müssen die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Schüler sein sowie die Aspekte oder Kategorien von Musik, welche die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Schüler besonders ansprechen. Zu seiner Begründung müssen vor allem didaktische, psychologische und neurophysiologische Argumente herangezogen werden. Die unerlässlichen musikalischen Kriterien müssen diesen Argumenten nachgeordnet werden. Da die unbefriedigende Situation wesentlich mit Unsicherheiten auf der konzeptionellen Ebene zusammenhängt, soll nun ein solches Konzept unter Bezugnahme auf die drei o. g. Brückenfunktionen vorgestellt werden.

B.   Die Funktionen der Brücke Musikunterricht

Die drei Funktionen der Brücke Musikunterricht - verbinden, zu einem Ziel führen und Hindernisse überwinden - bedingen sich gegenseitig: nur wenn die Verbindungen hergestellt werden, können die Hindernisse überwunden und das Ziel der Förderung des Schülers erreicht werden.

1. Der Musikunterricht verbindet

a. Die Verbindung zwischen Schüler und Musik

Lernen, Bildung, Aneignung, Förderung sind stets doppelseitige Prozesse, bei denen der Lernende sowohl etwas über die Welt, als auch über sich selbst erfährt. Die griffigste Formel für die pädagogische Aufgabe, die sich aus dem Subjekt-Objekt-Bezug beim Lernen ergibt, findet Hartmut v. Hentig mit dem Buchtitel Die Menschen stärken, die Sachen klären. (1985) Der Mensch wird nur gestärkt durch Sachen, die er versteht, die geklärt sind und die Sachen können nur geklärt (gelernt, angeeignet) werden, wenn sie den Menschen stärken, mit ihm eine Verbindung eingehen. Für den Musikunterricht bedeutet dies: die musikalischen Bedürfnisse und Fähigkeiten können nur gestärkt, Musik kann nur angeeignet werden durch Aspekte oder Kategorien der Sache Musik, die die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Schüler ansprechen. Die Brücke, die Verbindung zwischen Schüler und Musik ist die körperliche Bewegung, bzw. der Zusammenhang von Wahrnehmung und Bewegung, die Sensomotorik.

b.      Die Verbindung zwischen Wahrnehmung und Bewegung - Sensomotorik

Unser Leben spielt sich auf vier Ebenen ab, die untrennbar verbunden sind: wir können wahrnehmen, uns bewegen, fühlen und denken. Das Primäre, Grundlegende ist der Kreislauf von Wahrnehmung und Bewegung, den das Wort Sensomotorik bezeichnet. In der sensumotorischen Phase entwickelt sich die sensumotorische Intelligenz (Piaget) als Basis menschlichen Vermögens. Die Sensomotorik bildet die Grundlage für Fühlen und Denken.

Die Sensomotorik hat ihr neuronales Korrelat im Zusammenspiel der sensorischen (afferenten) und motorischen (efferenten) Nerven und in der Zusammenarbeit zwischen den sensorischen und motorischen Zentren auf den verschiedenen Ebenen des Gehirns. Wir können uns nicht bewegen ohne gleichzeitig wahrzunehmen und ohne Bewegung oder Bewegungsvorstellungen nicht wahrnehmen. Für den Zusammenhang von Musik und Bewegung sind vor allem die Verhältnisse im Innenohr maßgebend: Das Gehör (die Cochlea) und der Bewegungssinn (das Vestibularsystem) liegen in der selben Flüssigkeit. Das bedeutet, ein akustischer Impuls wird nicht nur gehört, sondern auch als Bewegungsimpuls wahrgenommen [4] .

Die physiologischen Gegebenheiten bilden die Basis für die Psyche, für das Bedürfnis nach Bewegung und Wahrnehmung und nach der Balance zwischen beiden. Wenn Bedürfnisse nicht befriedigt werden, - wenn wir auf die Sinnesreize aus der Umwelt nicht angemessen reagieren können oder wenn unsere Aktionen keine sinnliche, keine sinn-volle Basis haben - sind wir frustriert. Frustration stellt sich ein, wenn dem Übermaß an Reizangeboten ohne motorische Konsequenz ein Übermaß an motorischer Aktivität ohne sensorische Relevanz entspricht (Wieser 1979 S. 54), d. h. wenn die sensomotorische Balance gestört ist. Die Folgen von Frustration sind Aggression, Regression und Apathie.

Das Gegenteil von Frustration – Befriedigung, Wohlbefinden, Lust, Spaß - empfinden wir, wenn wir auf Sinneseindrücke angemessen reagieren können, wenn die Integration von Sensorik und Motorik gelingt.

Die Möglichkeit, Sinneswahrnehmungen sinnvoll ordnen zu können, vermittelt uns Befriedigung und die Befriedigung wird noch größer, wenn Empfindungen auch mit angepaßten Reaktionen beantwortet werden können.... Ein Kind, das Erfahrungen mit Anforderungen macht, auf die es sinnvoll reagieren kann, hat Spaß. Spaßhaben ist der Inbegriff für gute sensorische Integration (Ayres 1984, S. 9).

Die Lust an der Sensomotorik, die man in erster Linie als Funktionslust bezeichnen kann, erhält durch die musikalischen Reize eine eigene Dynamik, weil lustvolle Reize die motorischen Kanäle durchlässiger machen und wir wie von selbst reagieren [5] . Altenmüller spricht vom selbstbelohnenden Charakter des Musizierens, ....vom Flow-Erleben, wenn alles funktioniert und das Instrument beherrscht wird (1999 S. 97). Das stimulierende Flow-Erleben ist jedoch nur eine Seite. Die andere Seite ist die strukturierende Erfahrung von Gestalt und Ordnung. Das Involviertsein in die Spannung zwischen die Pole Stimulierung und Strukturierung ist ein wesentliches Moment der Lust an der Musik.

Lust und Wohlbefinden spiegeln sich in der Sensomotorik, in Mimik und Gestik. Lächeln und Lachen regen die Produktion der Endorphine an, die uns in einen Zustand des Wohlbefindens versetzen. Feldenkrais sagt, daß Lernen, bei dem man lächelt, größere Früchte trägt [6] . Der Zusammenhang zwischen Lust, Spaß und Musikunterricht wird häufig vernachlässigt, wenn nicht gar in Abrede gestellt. Wer dies tut, kann kein guter Musiklehrer sein, weil er seiner Sache, dem Musiklernen, nicht gerecht wird. Und außerdem: Warum sollten Schüler (denen nicht, wie dem Musiklehrer, Musik zum Broterwerb dient) Musik lernen, außer zum Spaß?

Die auf das Thema Lust und Frust konzentrierte psychologische Argumentation geht davon aus, dass die gestörte sensomotorische Balance ein Schlüsselproblem [7] unserer Zeit darstellt und dass der Musikunterricht zur Wiederherstellung dieser Balance wesentlich beitragen könnte.

2. Der Musikunterricht führt zu einem Ziel

Pädagogische Ziele beziehen sich auf Verhaltensweisen oder Fähigkeiten, die in der Auseinandersetzung mit bestimmten Inhalten verändert, entwickelt, gefördert [8] werden sollen. Wer von einem Lernziel spricht, muß Kriterien für Lernfortschritte sowie Inhalte und  Methoden, durch die es erreicht werden soll, nennen.

a.      Das Ziel: Förderung  der Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und

Kommunikationsfähigkeit

In der Grafik ist der sensomotorische Zusammenhang in der vertikalen Achse dargestellt. Auch für die auf der horizontalen Achse stehende Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit ist Bewegung das wichtigste Medium. Dies gilt ebenso für die Ausdrucks- und Kommunikationsmedien Stimme und Instrumente, die ohne Bewegung stumm bleiben. Die Darstellung soll einmal die Schlüsselfunktion der Bewegung, zum anderen den untrennbaren Zusammenhang der vier Fähigkeiten verdeutlichen.

 

Bewegung

Senso-Motorik

 
Ausdruck

Bewegung/

 Stimme/Instrumente      

 

Kommunikation

Bewegung/

Stimme/Instrumente

 

Wahrnehmung

Senso-Motorik

 

 

·    Musikalische Bewegung kann jede äußere oder innere Veränderung von Lage, Stellung, Spannungszustand des Körpers oder seiner Teile bzw. der Körpervorstellung oder des Körpergefühls sein: Bewegungen der körpereigenen Instrumente bei Klanggesten oder beim Umgang mit Instrumenten und Materialien, Bewegungen des Körpers am Platz (Gebärden, Gesten) oder im Raum, (Gehen, Laufen, Tanzen usw.), Bewegungen der Mimik und der Stimme, aber auch die inneren Bewegungen der Empfindungen, Gefühle und Assoziationen.

-          Kriterien für Lern-/Förderfortschritte sind Angemessenheit zwischen dem musikalischen Reiz und der Reaktion, Koordiniertheit, Strukturiertheit, Flüssigkeit, Schnelligkeit der Bewegung sowie der Grad an Bewegungsfreude bzw. Bewegungshemmung.

·        Musikalische Wahrnehmung ist die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf bestimmte musikalische Kategorien zu konzentrieren. Die in Frage kommenden Kategorien Körperlichkeit, Gestalt/Ordnung, Darstellung und Ausdruck werden weiter unten erläutert.

-          Kriterien für Lern-/Förderfortschritte sind Offenheit für innere und äußere Sinneseindrücke, körperliche Ansprechbarkeit, Reaktionsfähigkeit, die Fähigkeit, die inhaltlichen Kategorien zu bemerken sowie die Zeitspanne von Aufmerksamkeit und Konzentration.

·    Musikalischer Ausdruck ist Inneres (Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken, Willensakte), das durch die Ausdrucksmedien Bewegung, motorische und klangliche Ebene der Stimme [9] , Instrumente, Materialien und elektronische Medien zum Ausdruck kommt.

-          Kriterien für Lern-/Förderfortschritte sind Bereitschaft, sich der nonverbalen Medien zu bedienen sowie Angemessenheit, Authentizität, Vielfalt, Farbigkeit und Flüssigkeit des Ausdrucks.

·    Musikalische Kommunikation sind die Akte, in denen mit Hilfe der genannten Ausdrucksmedien Beziehungen hergestellt werden. Rhythmen, Klänge, Lieder, Bewegungen usw., die als Kommunikationszeichen fungieren, dürfen nicht nur unter dem syntaktischen und semantischen Aspekt ihrer Stimmigkeit und Bedeutung, sondern müssen vor allem unter dem pragmatischen Aspekt ihres Aufforderungscharakters gesehen werden.

-          Kriterien für Lern-/Förderfortschritte sind Bereitschaft, sich der nonverbalen Kommunikationsmedien zu bedienen und Kommunikationsangebote anzunehmen, Fähigkeit, Nähe und Distanz auszuhalten sowie die bei Ausdruck genannten Kriterien.

b.      Der Inhalt: Die musikalischen Kategorien

Körperlichkeit, Gestalt/Ordnung, Darstellung, Ausdruck

Die Kategorien Körperlichkeit, Gestalt/ Ordnung, Darstellung und Ausdruck bilden die Brücke zwischen den genannten Fähigkeiten des Schülers und der Musik: Einerseits ist Musik (wie) ein Körper (leibhaftig), Gestalt/Ordnung, Darstellung und Ausdruck. Andererseits ist musikalische Tätigkeit körperliche, gestaltende/ordnende, darstellende und ausdruckshafte Tätigkeit. Durch diese Kategorien, die sowohl die Musik als auch das musikalische Verhalten bestimmen, wird musikalisches Lernen zu exemplarischem Lernen [10] , weil sie Elementares, Fundamentales, Exemplarisches der Musik und des musikalischen Verhaltens widerspiegeln. In ihnen wird auch die eingangs dargestellte Doppelseitigkeit des Lernens deutlich.

·      Die Kategorie Körperlichkeit [11] bedeutet, daß sich die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeiten der körperlichen Erfahrung und Gestaltung von Musik richtet. Es wird leicht vergessen, wie wichtig für das Musiklernen der Körperkontakt mit dem Instrument ist, daß vor dem Be-Greifen hundertfaches Greifen steht. Da den allermeisten Schülern solche Erfahrungen versagt sind, muß dem Instrument, das jedem zur Verfügung steht, dem Körper, viel größere Beachtung geschenkt werden.

·      Die Kategorie Gestalt/Ordnung äußert sich in der Gestalt oder Ordnung des musikalischen Zeit- und Klangraums. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf Tempo, Metrum, Takt, Rhythmus, Tonhöhen, Klangfarben und -ebenen, Formverläufe und –zusammenhänge usw. Die Frage ist, welche Musik der Lehrer auswählt und welche Hilfen er gibt, damit sich diese Kategorie der Musik im Bewegungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsverhalten der Schüler niederschlägt.

·      Die Kategorie Darstellung ist im Spiel, wenn sich die Aufmerksamkeit auf die musikalische Darstellung oder Nachahmung, auf ein Programm richtet, wenn Tiere, Maschinen, Geschichten, Lieder, Bilder usw. musikalisch dargestellt werden. Die Frage des Lehrers ist, wie er die Aufmerksamkeit der Schüler auf die Möglichkeiten musikalischer Darstellung lenken und sie zu musikalischer Darstellung bei Bewegung, Ausdruck und Kommunikation motivieren kann.

·      Die Kategorie Ausdruck ist maßgebend, wenn sich die Aufmerksamkeit auf die der Musik eigenen und von ihr ausgelösten Stimmungen und Gefühle (Freude, Trauer, Zorn usw.) richtet. Die Frage des Lehrers ist, wie er die Aufmerksamkeit der Schüler auf musikalischen Ausdruck lenken und sie ermutigen kann, Gefühle in ihrem Bewegungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsverhalten zuzulassen.

Die Aufgabe und Kunst des Lehrers besteht also im Aufspüren und Verdeutlichen dieser Kategorien und in der Entscheidung, welche der Kategorien für die jeweilige Musik, die jeweiligen Schülern die jeweilige Situation am ergiebigsten ist und vor allem im Aufzeigen der Zusammenhänge zwischen den Kategorien.

c. Die methodische Prinzipien:

Bewegung, Wiederholung, Stimulierung-Strukturierung

Die drei methodischen Prinzipien sind eng mit dem Ziel und den inhaltlichen Kategorien verbunden. Sie machen deutlich, daß es weniger darauf ankommt, daß Musik gemacht und gehört wird, daß man sich bewegt, sondern vielmehr darauf, wie dies geschieht. Das ”Wie” wird durch die drei folgenden Prinzipien wesentlich bestimmt.

·        Bewegung ist nicht nur eine menschliche Fähigkeit und eine Eigenschaft der Musik, sondern auch das wesentlichste methodische Prinzip, das bedeutet, dass die Schüler immer wieder auf die sensomotorische Ebene gelockt, in Bewegungszusammenhänge involviert werden müssen.

·        Wiederholung ist das wichtigste formbildende Prinzip in der Musik und wesentliche Garantie für die Lust an der Musik. Die Verbindungen zwischen den Neuronen als Ergebnis des Lernens können sich nur durch Wiederholungen bilden. Daß Schüler etwas (noch) nicht können, rührt häufig daher, daß sie nicht genügend Zeit zum Wiederholen hatten. Der Lehrer muß den Schülern Zeit lassen und dafür sorgen, daß sie in die musikalische Zeit (den Groove, Swing) hineinkommen und genügend lange darin bleiben können und er muß die klanglichen, tempomässigen, dynamischen usw. Variationsmöglichkeiten beim Wiederholen nutzen.

·        Das Prinzip Stimulierung-Strukturierung bedeutet, daß Musik einerseits innere und äußere Bewegung provoziert, Assoziationen und Emotionen freisetzt, andererseits Ordnung, Regelhaftigkeit, Struktur vermittelt. Die Spannung bzw. Balance zwischen beiden Polen, das Eigentliche musikalischen Erlebens und Handelns, stellt sich jedoch in der Regel nicht von selbst ein, sondern ist auf die Präsentation durch den Lehrers angewiesen. Er muß sich über die stimulierenden und strukturierenden Elemente des jeweiligen Inhalts im Klaren sein [12] und den Schülern das Erlebnis dieser Spannung oder Balance ermöglichen.

3. Der Musikunterricht überwindet Hindernisse:

 Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsprobleme

Die vier Fähigkeiten sind musikalische Fähigkeiten, weil sie von Musik in besonderer Weise angesprochen werden, für musikalische Tätigkeit unerläßlich sind und sich im Umgang mit Musik in besonderer Weise entfalten. Sie sind zugleich allgemeine Fähigkeiten, weil sie nicht nur für musikalisches, sondern für jedes Erleben und Handeln notwendig sind. Man kann sie schließlich auch als behinderte Fähigkeiten bezeichnen, weil in ihnen nicht nur Möglichkeiten, sondern auch Grenzen deutlich werden. Im Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsverhalten eines Menschen kommen nicht nur seine Stärken, sondern auch seine Schwächen und Behinderungen zum Ausdruck. Jegliche Behinderung geht in der Regel einher mit einem eingeschränkten Gebrauch dieser vier Fähigkeiten.

Der Aspekt der behinderten Fähigkeiten soll den Blick weniger auf die Grenzen als vielmehr auf die Erweiterungs- und Differenzierungsmöglichkeiten beim Singen, Spielen Tanzen usw. lenken - seien diese noch so gering. Der Aspekt der allgemeinen Fähigkeiten stellt den Bezug zu ihrem alltäglichen Gebrauch her [13] und soll eine vorschnelle Einengung auf bestimmte musikalische Techniken und Gestaltungen verhindern. Der Aspekt der musikalischen Fähigkeiten schließlich weist auf das Besondere musikalischer Förderung hin, das im lustvollen Gebrauch dieser Fähigkeiten, im musikalischen Spielraum, sowie in den Kriterien zur Förderung der Fähigkeiten, den inhaltlichen Kategorien und methodischen Prinzipien liegt.

Das vorliegende Konzept versucht, den Schüler nicht nur bei seinen sensomotorischen Bedürfnissen und Fähigkeiten abzuholen, sondern ihn mit Hilfe der Musik auch wieder dorthin zu führen, zu seinen eigenen Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeiten. Es dürfte deutlich geworden sein, wie wichtig der Lehrer bei der Verwirklichung dieses Konzepts ist und daß die gegenwärtige Lehrerausbildung ihn für den hier intendierten Musikunterricht nur unzureichend qualifiziert. Was den musikalischen Aspekt des Studiums angeht, so müßte die Körperarbeit dasselbe Gewicht wie die Beschäftigung mit dem Musikinstrument erhalten, es müßte der Improvisation und dem Experiment das gleiche Gewicht wie der Reproduktion zukommen, körpernahe bzw. perkussive Musik wie ethnische und Rockmusik müßten eine größere Rolle spielen und auch beim Umgang mit der „klassischen Musik“ müßte die körperliche Bewegung einbezogen werden. Was den pädagogischen Aspekt des Studiums angeht, so müßte mehr Gewicht gelegt werden auf die Vermittlung der psychologischen und neurophysiologischen Grundlagen des Lernens, auf die Entwicklung von Strategien und Kriterien für die Förderung des Schülers und vor allem auf die Frage, wie Schüler zu all dem animiert und motiviert werden können. Hilfreich für Überlegungen zu einer Neuorientierung des Studiums und damit des schulischen Musikunterrichts wären z.B. die Konzepte Der Weg zum Rhythmus von R. Flatischler, Die Welt der Körperpercussion von J. Zimmermann, Musik in Schwarzafrika von V. Schütz sowie die Vorschläge zum didaktischen Umgang mit der Popmusik des Instituts für Didaktik populärer Musik Oldershausen. Ebenso aber auch die Ansätze, die den Zugang zu klassischer Musik über Körperbewegung [14] und Mitspielmusiken [15] eröffnen.

An der eingangs skizzierten Situation des Musikunterrichts für die Schwachen wird sich allerdings ohne entscheidende bildungspolitische Maßnahmen nichts ändern. Eine solche Maßnahme bestünde in der Verbesserung – der Spezialisierung – der Lehrerausbildung im Blick auf die hier vorgestellten Ziele, Inhalte und Methoden des Musikunterrichts, die andere in der Durchführung von Modellversuchen an Sonder- bzw. Integrationsschulen, in denen die diesen Ausführungen zu Grunde liegenden Hypothesen überprüft und differenziert werden.

Literatur

Altenmüller, Eckart: Vom Spitzgriff zur Liszt-Sonate, in: Wehr/Weinmann (Hrsg.): Die Hand - Werkzeug des Geistes, Heidelberg 1999, S. 79 -111

Amrhein, Franz: Die musikalische Realität des Sonderschülers – Situation und Perspektiven des Musikunterrichts an der Schule für Lernbehinderte, Regensburg 1983

Ders.: Förderung durch Musik, in: Musik & Bildung 1996/2, S. 10 -14

Ders.: Sprachförderung im Musikunterricht, in: Schütz, Volker (Hrsg.): Musikunterricht heute, Oldershausen 1996, S. 39-50

Ders.: Sensomotorisches und musikalisches Lernen, in: Schütz/Bähr (Hrsg.): Musikunterricht  heute 2, Oldershausen 1997, S. 40-49

Ders.: Musikunterricht mit Problemschülern, in: Schütz/Börs (Hrsg.): Musikunterricht heute 3, Oldershausen 1999, S. 28-37

Amrhein, Franz / Bieker, Margret: Lernen mit den Sinnen - Aspekte von Theorie und Praxis ästhetischer Erziehung im Sonderpädagogikstudium am Beispiel Musik. In: Probst, Holger (Hrsg.): Mit Behinderungen muß gerechnet werden. Oberbiel 1999, S. 125-154

Ayres, Jean: Bausteine der kindlichen Entwicklung. Berlin, Heidelberg 1984.

Bastian, Hans Günter: Musik(erziehung) und ihre Wirkung, Mainz 2000

Bayerischer Kultusminister (Hrsg.): Lehrplan zur individuellen Lernförderung, München 1991

Bruner, Jeromin S.: Entwurf einer Unterrichtstheorie, Berlin 1974

Drosdowski, Günter: Ethymologie, Mannheim 1989

Feldenkrais, Moshé: Bewußtheit durch Bewegung, Frankfurt 1978

Ders.: Das starke Selbst, Frankfurt 1992

Flatischler, Reinhard: Der Weg zum Rhythmus, Essen 1990

Hentig, Hartmut v.: Die Menschen stärken, die Sachen klären, Stuttgart 1985

Hessischer Kultusminister (Hrsg.): Rahmenplan Ästhetische Bildung: MUSIK – Schule für Lernhilfe, Frankfurt 1996

Klafki, Wolfgang: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim 1991

Kultusminister von NRW (Hrsg.): Richtlinien für die Schule für Lernbehinderte – Musik, Köln 1977

Kultusministerkonferenz (Hrsg.): Zur Situation des Unterrichts im Fach Musik an den allgemeinbildenden Schulen der BRD, Bonn 1998

Merkt, Irmgard: Musik an Sonderschulen in NRW – Ein Bericht, Dortmund 1999

Papoušek, Mechthild: Vom ersten Schrei zum ersten Wort, München 1994

Probst, Werner: Instrumentalspiel mit Behinderten – Ein Modellversuch und seine Folgen, Mainz 1991

Ders.: Musik mit behinderten Menschen – Fortbildungen des vdm., in: Bundesvereinigung kulturelle Jugendbildung e.V. (Hrsg.): EigenSinn & EigenArt. Remscheid 1999, S. 197-200

Schütz, Volker: Musik in Schwarzafrika, Oldershausen 1992

Thompson, Richard F.: Das Gehirn - Von der Nervenzelle zur Verhaltenssteuerung, Heidelberg 1993

Tomatis, Alfred: Der Klang des Lebens, Reinbek 1994

Verband deutscher Schulmusiker (Hrsg.): Dokumentation Forschungsprojekt Musik an Sonderschulen, Hannover 1991

Vincent, Jean-Didier: Biologie des Begehrens - Wie Gefühle entstehen, Hamburg 1990

Wieser, Wolfgang: Über die Einheit von Wahrnehmung und Verhalten in der technischen Welt, in: Wiechmann, Hermann (Hrsg.): Der Mensch ohne Hand, München 1979, S. 54-60

Zimmermann, Jürgen: JUBA – Die Welt der Körperperkussion – Techniken, Rhythmen, Spiele, Boppard 1999

 

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[1] Für die – der besseren Lesbarkeit wegen - durchgängig gebrauchte männliche Form bitte ich um Nachsicht.

[2] Der Plan konkretisiert das hier dargestellte Konzept in 12 Lernfeldern und will vor allem die - in der Regel fachfremd unterrichtenden - Lehrer ansprechen und ermutigen.  

[3] Z. B.: Ziel [des Musikhörens] ist das Aufsuchen und Erkennen der.... Strukturen eines Musikstücks. (Rahmenrichtlinien NRW 1977, S. 8)

[4]   Die neurophysiologischen Gegebenheiten werden in Amrhein 1997 S. 41ff ausführlich beschrieben.

[5] Die Lust ist von zentraler Bedeutung für den Assoziationsprozeß. Sie ist ein seinem Wesen nach dynamisches Prinzip, das der Plastizität des Nervensystems ermöglicht, sich Ausdruck zu verschaffen. (Vincent 1992 S. 207)

[6] Vgl. Feldenkrais 1992, S. 20

[7] Vgl. den Abschnitt Das Schlüsselproblem Sensomotorik in Amrhein 1997 S. 40f.

[8] Fördern bedeutet, an eine andere Stelle bringen, weiterbringen, (z.B. Erz) ans Tageslicht bringen. (Drosdowski 1989 S. 199) Man kann nur das fördern, was bereits vorhanden ist und man muß genau wissen, was man fördern will. Der Begriff der Förderung soll vor allem den Aspekt des Lernens als Veränderung, Entwicklung der Fähigkeiten des Subjekts sowie die besondere Rolle des Lehrers beim Förderprozeß betonen. Gleichwohl versteht sich Förderung nicht als Maßnahme des Lehrers, sondern – wie bereits ausgeführt – als selbstbestimmten Prozeß der doppelseitigen Aneignung

[9] Die motorische Ebene umfasst alle Artikulationen (Stimmbewegungen) vor oder neben dem Sprechen. Auf der klanglichen Ebene liegt der Sinn des stimmlich Produzierten weniger in der Bedeutung der Worte als im Klang der Stimme. Diese präverbalen bzw. paralinguistischen Ebenen kann man als die musikalischen Ebenen der Stimme ansehen. Vgl. dazu Papoušek 1995 und Amrhein 1996

[10] Vgl. Klafki 1991, S.143f.

[11] Wenn Musik auch kein Körper im Sinn eines faßbaren Gegenstands ist, so eignet ihr doch in einem übertragenen Sinn Körperlichkeit: Wir erleben ihre Gestalthaftigkeit, ihre Proportionen und Strukturen als Entfaltung im Zeit- und Klangraum, bezeichnen die musizierenden Stimmen und Instrumente als Klangkörper, sind bei "Bodymusic" selbst ein solcher Klangkörper. Wenn Musik in die Füße geht, wird sie körperlich wahrgenommen. Vgl. auch den Abschnitt Leibhaftige Musik in Amrhein 1997

[12] Stimulierende und zugleich strukturierende Elemente eines Liedes können z.B. der gefällige Inhalt, der witzige Text, die ansprechende Melodie, der zündende Refrain, ein Begleitrhythmus, eine dynamische Besonderheit (z.B. plötzliches piano), eine Bewegungsgestaltung, eine Pause usw. sein. Ob das jeweilige Element mehr stimulierend oder mehr strukturierend wirkt, hängt wesentlich von der Präsentation durch den Lehrer ab.

[13] Dass der musikalische Gebrauch dieser Fähigkeiten sich auch auf das allgemeine Verhalten auswirkt, dafür liefert die Langzeitstudie Musik(erziehung) und ihre Wirkung von G. Bastian (2000) eindrucksvolle Belege.

[14] Bergmann, Anneliese/Reusch, Arnold: Musik zum Bewegen, Frankfurt 1988

[15] Neuhäuser, Meinolf u.a. Musik zum Mitmachen, Frankfurt 1982 ff. Zahlreiche Anregungen hierzu finden sich auch in der Zeitschrift Praxis des Musikunterrichts.

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