Aus:
Grundschule 9/1993. S. 17-18
Franz Amrhein
Musik mit der
Stimme - Stimmspiele
Drei
Ebenen der Stimme
Unsere
Stimme gebrauchen wir vor allem zum Sprechen und Singen. Bei beiden Aktivitäten bedienen daß wir uns eines
relativ feststehenden "Vokabulars". Dieses Vokabular besteht beim
Sprechen aus den Lauten und Worten der Sprache, beim Singen aus den Tonhöhen
und -dauern der Melodie. Nur wenn diese Elemente richtig angeordnet und
gestaltet werden, Können wir dem Sprechen und dem Singen Sinn und Bedeutung entnehmen.
Die Fähigkeit, sprachlich und musikalisch Sinnvolles hervorzubringen, richtig
zu sprechen und zu singen ist nicht von Natur aus vorhanden, sondern wird im
Umgang mit der sprechenden und musizierenden Umwelt gelernt. Eine Besonderheit
beim Singen ist, daß es in der Regel nicht nur um eine Melodie, sondern auch um
einen Text geht, daß die Bedeutung und der Sinn dieser Tätigkeit nicht nur in
ihrer musikalischen, sondern auch in ihrer sprachlichen Gestaltung liegt. Die
Tätigkeiten Sprechen und Singen hängen jedenfalls mit der Fähigkeit, sowohl
sprachliche als auch musikalische Bedeutung zu erfassen und zu unterscheiden,
zusammen, Sprechen und Singen spielen sich im Wesentlichen auf der Bedeutungsebene der Stimme ab. Dieser
gehen entwicklungsgeschichtlich die motorische und die klangliche Ebene voraus
und auf diese beiden Ebenen sollen sich die hier vorgeschlagenen Stimmspiele
vor allem beziehen.
Die
motorische Ebene der Stimme Können
wir beim Säugling beobachten, wenn er die Bewegungs- und Artikulationsmöglichkeiten
seiner Mundwerkzeuge entdeckt und im Spiel mit ihnen eine unendliche Vielzahl
von Lauten und Geräuschen produziert, ein Spiel, das offensichtlich mit
Vergnügen, mit "Funktionslust" verbunden ist. Solch lustvollen Umgang
mit der motorischen Ebene der Stimme finden wir bis weit in die Schulzeit beim
Nachahmen von Geräuschen aus Natur und Technik, beim Spiel mit den Klang- und
Artikulationsmöglichkeiten der Stimme, mit Reimen, Nonsensversen,
Zungenbrechern, Phantasiesprachen usw. Diese "artikulomotorische"
Ebene ist jedoch auch für das Sprachverständnis von Bedeutung, denn "die
einzelnen Phoneme ...werden nicht nur nach klanglichen Dimensionen auditiv,
sondern ebenso präzise auch nach feinmotorischen Dimensionen
taktil-kinästhetisch unterschieden."[1]
Die
klangliche Ebene der Stimme steht im
Vordergrund, wenn durch Klanggesten (Lachen, Stöhnen, Brummen usw.), durch
Modulation, Tonfall, Klangfarbe, Dynamik usw. Gefühls- und Ausdrucksqualitäten
wie Ruhe, Unruhe, Ärger, Freude, Trauer, Spott, Zu- oder Abneigung usw.
vermittelt werden. Lange bevor das Kind die Bedeutung aus den Worten der
Sprache entnehmen kann, "versteht" es den Klang der Stimme und die
Klanglichkeit seiner Umwelt.
Diese
beiden "analogen" Ebenen der Motorik und des Klangs werden häufig von
Bewegungen des ganzen Körpers, von Mimik und Gestik unterstützt und sind in der
Regel mit der digitalen Inhalts- oder Bedeutungsebene verbunden. Sie Können
Gesagtes verstärken oder auch konterkarieren (wenn die klangliche der
Bedeutungsebene widerspricht, man z.B. "ja" sagt und "nein"
meint oder wenn "das hast du schön gemacht!" das Gegenteil
signalisiert). Sprechen und Singen erhalten durch die motorische Ebene
Flüssigkeit, Rhythmus und Gliederung, durch die klangliche Ebene Farbigkeit und
Ausdruckskraft. Diese beiden Ebenen der Stimme garantieren, daß das mit
rationalen Worten oder mit richtigen Tönen Gesagte auch emotional
"ankommt". Die motorische und die klangliche Ebene, die die
musikalischen Ebenen der Stimme darstellen, Können sich aber auch von der
Bedeutungsebene lösen und verselbständigen. Dann Können sich auf diesen Ebenen
sensible musikalische Spiele entfalten, die ohne Angst vor den
grammatikalischen, semantischen und phonematischen Notwendigkeiten der Sprache
sowie ohne Furcht vor falschen musikalischen Tönen gespielt werden Können.
Vorbilder für solche Spiele - vor allem für das Ernst Nehmen der motorischen
und klanglichen Ebene der Stimme - finden wir in den unbefangenen Spielen der
Kinder und in zahlreichen Kompositionen
von CAGE, BERIO, KAGEL, LIGETI, SCHNEBEL, STOCKHAUSEN u.a.
Stimmspiele
Klangspielzeug
Alle
sitzen mit gutem Sichtkontakt möglichst auf dem Boden im Kreis. Man kann mit
einem Gespräch beginnen über die Möglichkeiten, mit der Stimme Musik zu machen,
über das Singen und Reden und was es dazwischen noch alles gibt. Man kann aber
auch direkt mit dem Musikmachen anfangen.
Der
Lehrer wirft einen Klang - wie ein Spielzeug - in den Kreis: dubbdubb tztztz -
ooooo - eieieiei - mmmmm - ja Schnalzen mit der Zunge, den Lippen oder dem
Gaumen - rrrrr - hecheln - gurgeln prusten - nunununu - schschsch usw.
Alle
nehmen dieses Spielzeug auf und spielen
damit indem sie es in Höhe, Tiefe, Kürze, Länge, Tempo, Klangfarbe und
Lautstärke verändern. Die Anregungen für diese Veränderungen, diese
Klangexperimente sollen weniger durch verbale Anweisungen sondern mehr durch
das Vormachen, das Beispiel des Lehrers erfolgen, das die Schüler behutsam zum
Ausprobieren motiviert. Man muß genug Zeit für das Spiel mit einem Klang
lassen, aber auch rechtzeitig wechseln. Die Aufmerksamkeit soll einerseits bei
den Klängen, bei der Musik, andererseits aber auch bei dem Miteinander, dem
Sich Zuspielen der Klänge, dem kommunikativen Spiel sein, wenn wir uns mit den
Klängen "ansprechen" oder uns die Töne "vom Mund abnehmen".
Auch wenn es zwischendurch einmal lauter zugeht, sollen es insgesamt doch leise
Spiele sein.
Wenn
sich die Regeln eingespielt haben, gibt jeder Schüler einen Klang, mit dem eine
Weile gespielt wird, in den Kreis. Da kann es sein, daß Talente und
Fertigkeiten hörbar werden, die beim gewohnten Singen kaum eine Chance hätten
und natürlich gibt es viel zu lachen und gerade dies tut der Stimme gut. Dabei
können nicht nur die Klänge sondern auch Mimik, Gestik, Gebärden und Bewegungen aufgenommen und in das Spiel einbezogen
werden. Eine eigene Form entsteht, wenn mit den Klängen nicht mehr frei gespielt wird, sondern sie durch den
Kreis wandern, wobei sie gleich bleiben oder sich verändern Können:
·
Wie schnell kann man
einen Klang durch den Kreis schicken?
·
Jeder hält den Klang
so lange bei sich wie sein Atem reicht;
·
Der Klang ist bei
einem laut, beim nächsten leise bzw. hoch und tief usw.
·
Der Klang wird bei
jedem ein wenig lauter, leiser, tiefer, höher, länger usw.
·
Klänge und Gesten
Können sich abwechseln: einer produziert den Klang, der nächste erfindet eine
Geste dazu.
Die
Klänge oder Klanggesten Können auch auf Kärtchen geschrieben werden. Ein Kärtchen
wandert durch den Kreis. Der darauf stehende Klang wird so lange produziert,
bis das nächste Kärtchen kommt. Das führt zu "mehrstimmigen"
Gestaltungen. Natürlich müssen auch "Pausenkärtchen" dazwischen sein
und das letzte Kärtchen muß das Ende signalisieren.
Ein Nonsens-Vers
Der Vers
E
e e e e e q e e
e e h
Ellri mellri sippri
sa sippri sappri knoll
wird
spielerisch durch Vor- und Nachsprechen gelernt. Dabei werden die Möglichkeiten
des Flüsterns, des laut, hoch, tief Sprechens ausprobiert, ebenso das lauter,
leiser, höher, tiefer, langsamer und schneller Werden. Der ganze Vers wird
geflüstert oder nur innerlich gesprochen und nur das letzte Wort sehr laut
gesagt.
Bei
diesen Klang- und Artikulationsspielen ist wieder das Beispiel, die Animation
des Lehrers ausschlaggebend.
Der
Vers wird im Kreis herumgegeben, wie beim Abzählen, Zunächst sagt jeder eine
Viertel-Note: Ellri-mellri... dann jeder eine Silbe: Ell-ri-mell-ri...nun gilt
es Achtel-, Viertel- und Halbe-Noten zu unterscheiden.
Der
Vers wird mit Klanggesten dargestellt:
Kniepatschen: e E e E e E e E
Klatschen: ee q
Stampfen: H
Es
kann im Kanon gesprochen und geklatscht werden:
Die
Klanggesten Können mit und ohne Sprechen im Kreis weitergereicht werden.
Der
Vers könnte eine Frage aber auch eine Antwort sein. Der Lehrer fragt
"Ellri....?" alle antworten "Ellri...!"
Wie
klingt die Antwort, wenn uns die Frage belustigt, überrascht, empört,
langweilt, verängstigt, reizt, erzürnt, ermüdet, erschreckt usw.? Wie klingt
der Vers, wenn ihn ein Zauberer, ein alter Mann, eine Fee, eine Mutter, die ein
Kind beruhigt, ein Prediger usw. sagt? Wie klingt er als Dialog in einem
Lustspiel, Krimi, Trauerspiel, in einer Operette oder einer Oper, in der
Tagesschau oder der Sesamstraße usw.?
Unsere - meine Namensmusik
Den
eigenen Namen hört man von klein auf in den unterschiedlichsten Schattierungen
von anderen, während man ihn selbst nur als Mitteilung ausspricht. Deshalb sind
bei Klangspielen mit dem eigenen Namen u.U. erst einige Hemmungen zu
überwinden. Andererseits kann die Musik des eigenen Namens für den Träger auch
eine Bestätigung bedeuten. Hier sind einige Anregungen für Namensmusiken:
·
Jeder stellt sich
vor, wie er seinen Namen (wiederholt) singen oder sprechen könnte. Auf ein
Zeichen beginnen alle gleichzeitig leise(!) und enden gleichzeitig. Sehr
wichtig ist die Phase der inneren Vorstellung (ein Ton oder mehrere, welcher
Rhythmus, kommen Pausen vor usw.). Es muß ausreichend Zeit gelassen werden zum
Hineinkommen. Jeder ist intensiv bei dem Klang seines Namens. Das Ganze kann
aufgenommen, abgehört, diskutiert, verändert werden.
·
Alle beginnen
gleichzeitig wie vorher. Auf dem gemeinsamen leisen Grund singt oder ruft jeder
einmal laut seinen Namen. Vorspiel, Reihenfolge der Solis, Nachspiel usw.
müssen ausprobiert und abgesprochen werden.
·
Einer beginnt und
nach und nach kommen die anderen hinzu. Wieder sollte zunächst viel Raum
für Spontaneität„t und Zeit zum Einschwingen und Einstimmen gelassen
werden. Worauf es ankommt, daß ein interessantes rhythmisches Gebilde entsteht.
Dazu sind Pausen unverzichtbar. Es kann frei oder zu einem Metrum musiziert
werden und das Ganze kann detailliert geplant und auch notiert werden.
·
Wir komponieren
unsere Namen: Aus dem Klangmaterial, den Silben, Konsonanten und Vokalen seines
Namens soll jeder eine Komposition erstellen. Annette z.B. besteht aus einem A,
zwei e, einem n, zwei t; aus den Silben An-net-te könnte Anananan...nett? te! Werden.Der "Krebs" lautet
Ettena. Aus all den Wiederholungen, Umkehrungen, Verkürzungen usw. sollen
Klangkompositionen entstehen, die dann von der ganzen Klasse unter Leitung des
Namensträgers aufgeführt werden. Da kann z.B. eine Gruppe
"Ananana".., eine andere "nett?" und die dritte
"te!" gestalten usw.
Nach exemplarischem gemeinsamem Experimentieren soll nun
jeder auf einem DIN-A3 Bogen die Partitur für den Klang seines Namens
erstellen. Dabei kann die zeichnerische, kalligrafische Phantasie die
Klangphantasie beflügeln und umgekehrt. Aus einem Ornament wird eine
Klanggirlande, die Zeichnung und die Klänge haben oben und unten, hell und
dunkel, zart und rauh, rund und eckig, laut und leise, "Wiederholung"
und "Entwicklung" kann man sehen und hören usw. Und vor allem: man
darf nicht nur mit der Stimme, sondern auch mit den Buchstaben einmal anders
als gewohnt umgehen.
Die Komponistinnen und Komponisten haben nun für die
Aufführung ihres Namens das Ensemble der ganzen Klasse zur Verfügung. Und wie
bei den anderen Spielen kann es sich ergeben, daß Mimik, Gestik, Bewegungen
einbezogen werden und aus dem Namen nicht nur ein Bild und eine Musik, sondern
auch eine Choreografie entsteht.
Die
hier vorgestellten Spiele, so wurde eingangs gesagt, beziehen sich vor allem
auf die motorische und klangliche Ebene der Stimme. Da diese beiden Ebenen mit
der Bedeutungsebene eng zusammenhängen, darf man annehmen, daß diese Spiele -
so wichtig sie für sich sind - auch dem bedeutungsvollen Sprechen und Singen
zugute kommen.
[1] Graichen,J.: Neuropsychologische Aspekte von Bewegung und
Sprache. In: Irmischer,Th.(Hrsg.): Bewegung und Sprache Schorndorf 1988 S.28